Nachruf auf Axel Wirths

In memoriam Axel Wirths: Vision als individuelle Strategie
von Renate Buschmann
Vor 25 Jahren fand die Ausstellung „vision.ruhr“ im Industriedenkmal der Zeche Zoller II/IV in Dortmund statt. Titel und Ort hätten eine Ausstellung über die Industrialisierung des Ruhrgebiets und den anstehenden Strukturwandel der Region erwarten lassen. Doch die Ausstellung streifte diese Thematik nur indirekt und zielte stattdessen darauf ab, den Besucher*innen die voranschreitende Technisierung von Arbeits- und Lebenswelt durch Gegenwartskunst nahezubringen. Für den in Dortmund geborenen Kurator Axel Wirths stand fest, dass Medienkunst – wie sie damals gerade erst getauft worden war – durch ihre ästhetische Wirkung am besten in der Lage sei, Technologiekompetenz und Technologiekritik zu vermitteln. Die Mehrzahl der deutschen und europäischen Museen beobachtete um das Jahr 2000 noch skeptisch, wenn Kunst mit technischen Medien eine Allianz einging. Dass einige wenige dennoch zögerlich mit dem Ausstellen und Sammeln begannen, dafür hat Axel Wirths viel getan: mit dem von ihm und Ulrich Leistner aufgebauten Kölner Videokunstvertrieb 235 Video, mit der daraus entstandenen Agentur für Medientechnik 235 Media, mit zahlreichen kuratorischen Initiativen und Projekten und mit einem großen Netzwerk von Künstler*innen, die über Jahrzehnte mit ihm zusammengearbeitet haben. Im Februar 2025 verstarb Axel Wirths im Alter von 64 Jahren. Er hat viele Spuren in der Kunstlandschaft hinterlassen – nicht zuletzt mit der 2006 in Düsseldorf gegründeten Stiftung IMAI, die er gemeinsam mit seinem jahrzehntelangen Kompagnon Ulrich Leistner ins Leben gerufen hat.
Als Axel Wirths Anfang der 1980er Jahre mit der Videokunst in Berührung kam, galt sein Interesse eigentlich der Independent-Musik, ihrer Produktion und vor allem ihrer Vermarktung unabhängig von den großen Musiklabels. Bundesweit bildete sich ein alternativer Markt mit so genannten Kassettenvertrieben, die Musik veröffentlichten, die bei den Plattenlabels und in den Medien keine Chance hatte. Die Kassette wurde als Befreiungsschlag der Subkultur gefeiert, da Vervielfältigung und Versand ohne großen Aufwand und kostengünstig möglich waren. So eröffneten Axel Wirths und Ulrich Leistner 1982 in Bonn unter dem Namen „235“ ihren ersten Laden mit Musikkassettenvertrieb. Das 1981 in Berlin organisierte Festival der „Genialen Dilletanten“ war Ausdruck einer alternativen Kunstszene, die ohne Rücksicht auf arrivierte Strukturen und mit selbstbewusster Do-it-yourself-Mentalität eigene Informations-, Vertriebs- und Veranstaltungskreise aufbaute. „Wir haben es einfach gemacht“, beschrieb Axel Wirths rückblickend die Spontaneität und den Aktivismus jener Jahre und erklärte damit auch, warum nur wenige Jahre später ein umfangreicher Vertrieb von Videokunstkassetten unter dem Label „235 Video“ erfolgreich war. Denn auch die Videokünstler*innen suchten nach Alternativen zum konventionellen Kunstmarkt, der ihre Kunstproduktion ignorierte. Erstens gab es weit verbreitete Ressentiments gegenüber einer künstlerischen Praxis, die mit technischen Bildverfahren arbeitete, und zweitens gegenüber Werken, die identisch kopiert und an mehreren Orten gleichzeitig präsentiert werden konnten. Für Kunstgalerien wich dies zu sehr von ihrem kommerziellen Qualitätsmerkmal des Unikats ab. Für Axel Wirths und 235 Video lag aber gerade in der Vervielfältigung die Chance, einen Absatzmarkt für Videokunst zu schaffen, der sich sowohl an Sammlungs- und Ausstellungsinstitutionen als auch an nicht-museale Zielgruppen richtete. Mit dem neuartigen merkantilen Konzept von 235 Video, später 235 Media, verabschiedete man sich von der Objekthaftigkeit der Kunstwerke und verkaufte folglich nicht mehr Werke, sondern die Nutzungsrechte an diesen multiplizierbaren künstlerischen Medien. Ein großes Angebot an Videobändern konnte in den Büroräumen in der Kölner Spichernstraße gesichtet, für Veranstaltungen ausgeliehen oder in unlimitierter Auflage erworben werden. 1989 umfasste der Katalog rund 200 künstlerische Videos aus dem In- und Ausland. Vorbild war Electronic Arts Intermix, der weltweit erste Videokunstvertrieb aus New York. Auch wenn die Prinzipien des Videokunstvertriebs heute so gut wie in Vergessenheit geraten sind, stellten sie für Videokünstler*innen bis in die frühen 2000er Jahre eine wesentliche Möglichkeit dar, ihre Werke durch die Vertriebsprogramme und -aktivitäten von 235 Media präsent und im Umlauf zu halten. Axel Wirths fungierte für viele deutsche und internationale Künstler*innen wie ein Galerist, jedoch mit anderen Mitteln, da er sich unermüdlich dafür einsetzte, für ihre Kunst innovative und dem Medium adäquate Absatzmärkte zu erschließen. Sendeplätze für Videokunst im Fernsehen eröffneten den Künstler*innen eine neue Einnahmequelle, setzten aber auch die seit Gerry Schums Fernsehgalerie bestehende Maxime fort, den Zugang zur Kunst über ihre Verbreitung im Fernsehen auszudehnen. Ein prominentes Beispiel ist das 1990 auf Kanal 4 ausgestrahlte Fernsehmagazin „Donnerstag“, das Axel Wirths mit Videokunst aus dem Vertriebsprogramm von 235 Media mitgestaltete.
Axel Wirths hatte ein Gespür und eine Vorliebe für das Denken „out of the box“. Als Mitinhaber des Unternehmens 235 Media durfte er ökonomische Aspekte nicht aus den Augen verlieren, aber gleichzeitig war es ihm ein leidenschaftliches Anliegen, mit Künstler*innen Projekte am technologischen Puls der Zeit zu wagen. Über den Videokunstvertrieb und als Leiter der Videonale 5 (1992) hatte er geschäftliche und freundschaftliche Beziehungen zu Künstler*innen weltweit geknüpft und kannte ihre Experimentierfreude mit Technologien. In den 1990er Jahren beschäftigten sich Künstler*innen vermehrt mit Innovationen der Telekommunikation, mit Interface-Design und den Anfängen digitaler Netzwerke und virtueller Räume. Dafür brauchten sie kompetente Technologiepartner, die im Sinne der künstlerischen Konzeption unkonventionelle Lösungen auf den Weg brachten. 235 Media wurde zu einer solchen renommierten Anlaufstelle und Axel Wirths verstand sich als Ermöglicher und Vermittler solcher herausfordernden künstlerischen Konzepte. Die Vernetzung an sich wurde zu einem künstlerischen Wert und brachte Begriffe wie Network Art und Telekommunikationskunst hervor, die Axel Wirths begeistert unterstützte. Die 1989 von Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz entwickelte und propagierte Idee des „Electronic Café International“ (ECI) wurde unter Beteiligung von 235 Media auf der documenta 9 in Kassel sowie 1993 auf der Biennale in Venedig und im Kölner Mediapark realisiert. Es war ein temporärer Pavillon mit Café und einer damals brandneuen Telekommunikationsausstattung, der den Künstler*innen die noch ungeahnten Möglichkeiten einer globalen Online-Community vorführte. Sich an verschiedenen Orten aufhalten zu können und gleichzeitig kollaborative Konzert-, Klang-, Tanz-, Schreib-, Zeichen-, Video- und Computerprojekte zu betreiben, war der Reiz des neu entdeckten virtuellen Raums. Ab 1994 kuratierte Axel Wirths für mehrere Jahre den eigens eingerichteten MedienKunstRaum der Bundeskunsthalle Bonn – eine der wenigen Ausnahmen unter den deutschen Institutionen, die damals regelmäßig zeit- und medienbasierte Kunst zeigten. Sein Interesse hatte sich nun auf komplexe Medienkunstinstallationen verlagert und bis zum Jahr 2000 präsentierte er in insgesamt 20 Einzelausstellungen viele in Deutschland ansässige Künstler*innen wie Ulrike Rosenbach, Klaus vom Bruch, Nan Hoover, Marcel Odenbach und Jeffrey Shaw ebenso wie internationale Künstler*innen wie Woody Vasulka, Gary Hill und Bill Seaman, die dadurch in Deutschland bekannt wurden. Die Erfahrungen dieser Jahre mündeten in die Gruppenausstellung „vision.ruhr Kunst Medien Interaktion“. Kuratorischer Leitgedanke war die Option, die Besucher*innen über die Kunst in den Prozess der kreativen Beschäftigung mit Technologie einzubeziehen. Die Frage „Welche Kunst könnte das Kommunikationszeitalter anschaulicher darstellen?“, die Axel Wirths in seinem einleitenden Text stellte, war daher nur rhetorisch gemeint. Auf der Zeche Zollern II/IV gab es eine Vielzahl von computergesteuerten, videoprojizierten und immersiven Installationen, die den Besucher*innen den Umgang mit Technik und eine ungewohnte Mensch-Maschine-Interaktion abverlangten – wohlgemerkt zu einer Zeit, als gerade einmal 47% der deutschen Haushalte einen einfachen Computer besaßen.
Axel Wirths und Ulrich Leistner erkannten früh die Notwendigkeit, den Firmenbestand an obsoleten Videokunstkassetten zu digitalisieren, um die Inhalte dieser Speichermedien zu sichern. Sie reagierten damit auf den herausfordernden permanenten Technologiewandel. Während Internetverbindungen und Websites noch längst nicht zum bundesdeutschen Standard gehörten, eröffnete 235 Media unter dem Namen „MedienKunstArchiv“ 2005 ein Portal, um über Online-Zugänglichkeit der Videokunst zu größerer Akzeptanz zu verhelfen. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als auch YouTube an den Start ging und das Internet als omnipräsente, selbstverständliche Bühne für Videos einleitete. Ein Jahr später beendete 235 Media ihre Verleih- und Verkaufstätigkeit für Einkanalvideos und übergab das gesamte Videokunstarchiv in die Verantwortung der in Düsseldorf neugegründeten, gemeinnützigen Stiftung IMAI – Inter Media Art Institute. Axel Wirths war überzeugt, dass sich das IMAI aufgrund seines Archivs und seines Vermittlungspotenzials als eine Institution etablieren und zu einer zentralen Einrichtung für die Zugänglichkeit, Konservierung und Erforschung von medienbasierter Kunst werden würde. Diese Prognose hat sich bestätigt. Die Expertise, Durchsetzungskraft und Leidenschaft, die Axel Wirths in diese Kunstform investierte, haben maßgeblich zur reichen medienkünstlerischen Geschichte von NRW beigetragen. Die Devise „Vision als individuelle Strategie“, mit der er 2000 seine Einleitung zur Ausstellung „vision.ruhr“ überschrieb, galt stets auch für sein eigenes kuratorisches wie unternehmerisches Handeln.