Brüssel, die Stadt, der Terror und der belgische Surrealismus

1. April 2016 · Kulturpolitik

Je suis Bruxelles – Ik ben Brussel Eine U-Bahnlinie gab es noch nicht, als ich in den 1980er Jahren häufig aus privaten Gründen mit dem Auto nach Bruxelles fuhr – die Autobahn aus Richtung Aachen geht in eine Ausfallstraße über, die am Place Rond Point Schuman endet, ein großzügig angelegter Kreisverkehr am Gebäude der EU-Kommission. Man muss sich in dem hektischen Verkehr geschickt auf die linke Abbiegespur zur Rue de la Loi einfädeln, an der 200 oder 300 m weiter heute die U-Bahnstation Maelbeek liegt, an der am 22. März 2016 Terroristen ein Bombenattentat verübten – am frühen Morgen gegen 8 Uhr fast zeitgleich zu dem anderen Anschlag auf dem Flughafen Zaventem. Mehr als 30 Menschen kamen dabei ums Leben, die meisten an jener Station Maelbeek, die in einem Viertel mit lauter Bürohäusern liegt, so dass dort am frühen Morgen vor Arbeitsbeginn immer eine hohe Frequenz an Fahrgästen und Passanten herrscht – ein Indiz dafür, dass die Terroristen nicht nur die Orte, sondern auch den Zeitpunkt ihres Anschlags so perfide gewählt haben, um eine möglichst hohe Zahl an Opfern zu erreichen. Biegt man kurz hinter der Station Maelbeek in die Rue d’Arlon ab und überquert man die Rue Belliard, an der das Goethe-Institut liegt, steuert man auf den Gare du Luxembourg zu, im Volksmund Gare Léopold genannt. Hier hat der spätere Surrealist Paul Delvaux in den frühen 1920er Jahren in expressionistischer Manier die Gleisstränge hinter dem Bahnhof gemalt, den Rangierbetrieb mit Dampflokomotiven in kaltem Nebel und mit Güterwaggons auf den Abstellgleisen. Am Bahnhofsvorplatz gab es in den 1980er Jahren noch viele billige Hotels und Kneipen – hier habe ich mir in einer dieser typischen Brüsseler Bierschwemmen 1986 das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Argentinien angeschaut. Ich war der einzige deutsche Gast in dieser Brasserie während der TV-Übertragung, und der deutsche Torwart Toni Schumacher wurde von den belgischen Gästen bei jedem Ballkontakt heftig ausgebuht. Heute verbringen in diesen Lokalen am Bahnhofsvorplatz EU-Beamte in schwarzen Anzügen und ihre Sekretärinnen die Mittagspause. Es sind inzwischen schicke Bistros, mit entsprechend hohen Preisen für einen Vorspeisenteller Tomaten met grijse garnaalen/Tomates aux crevettes grises oder einen „Toast Cannibale“ mit Rinder-Tatar, dem man ein wenig Mayonnaise untermischt. Von dem Bahnhofsgebäude ist nur noch die historische Fassade stehen geblieben; denn der Gleisstrang dahinter, den Paul Delvaux vor 95 Jahren gemalt hat, wurde unterirdisch verlegt und mit einem protzigen Klotz für das Europaparlament überbaut. Vor 30 Jahren führte mein Weg am Bahnhof vorbei regelmäßig weiter in den Stadtteil Ixelles über das holprige Straßenpflaster der Rue d’Idalie, vorbei an wackligen Abbruchhäusern bis zur Rue du Trone. Ich gelangte in ein Viertel mit düsteren, staubig-grauen Häusern aus der Gründerzeit, die jene bürgerliche Behäbigkeit ausstrahlten, die man aus den Bildern von Paul Delvaux und René Magritte herauslesen kann – hier wirkte vor 30 Jahren Bruxelles noch ein bisschen wie eine launische alte Dame mit schwarzer Spitzen-Stola an einem verregneten Sonntag. Inzwischen ist diese Gegend von den stadtplanerischen Ausfransungen des Quartier Européene vereinnahmt worden, das sich mit der unverfrorenen Gefräßigkeit seiner Bürokraten in die Altbauviertel ausgedehnt und diese dabei baulich so brutal verändert und sozial so gründlich gentrifiziert hat, wie man es aus deutschen Großstädten in diesem Ausmaß bisher nicht kennt. Ich erinnere mich, dass damals, irgendwann Ende der 1980er Jahre, nach einem Anschlag auf ein israelisches Reisebüro die Polizei im Vorort Ixelles ganze Straßenzüge mit quer gestellten Mannschaftswagen abriegelte und dann mit Maschinenpistolen bewaffnet Razzien in den Araberkneipen durchführte. Jeder, der irgendwie verdächtig wirkte, wurde mit hartem Griff von der Theke weggezerrt und ohne viel Federlesens in diese Mannschaftswagen verfrachtet. Damals waren solche martialischen Razzien aber noch ziemlich selten, und Ixelles mit seinem bunten Nebeneinander von Belgiern, Marokkanern und Schwarzafrikanern wirkte wie ein Modellversuch für die Utopien einer multikulturellen Gesellschaft – der afrikanische Supermarkt auf der Rue Goffart hatte Scheiben vom Elefantenrüssel und Antilopenfleisch in der Tiefkühltruhe, und der Ladeninhaber riet mir, das Fleisch vier Stunden lang zu kochen, aber es war dann immer noch zäh. 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, war Belgien in der Wirtschaftsstatistik das reichste Land Europas, wegen seiner Schwerindustrie und wegen seiner Rohstoffe aus der Kongo-Kolonie. Inzwischen ist aber auch in Belgien das Industriezeitalter vorbei, mit all seinen ökonomischen und kulturellen Umwälzungen. Der Stadtteil Molenbeek ist von der Brüsseler Innenstadt durch den Canal Bruxelles-Charleroi getrennt. Das Viertel hat sich seit dem 19. Jahrhundert als Arbeiterviertel entwickelt und heute den Ruf, eine Islamisten-Hochburg zu sein. Die Gebäude ehemaliger Fabriken säumen den Quai auf der Molenbeek-Seite. Dass hier längst keine Industrieproduktion mehr stattfindet, mag eine der Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit im Stadtteil sein. Ähnlich wie die Banlieus von Paris, so ist auch hier die Perspektivlosigkeit der sozial Deprivierten ein Nährboden für eine Radikalisierung, wie auch die anderen Modernisierungsverlierer auf die Parolen rechter Demagogen hereinfallen. Was sich in diesen sozialen Brennpunkten mit ihren Tendenzen zur Entwicklung von Parallelgesellschaften abspielt, beschrieb der Züricher „Tagesanzeiger“ nach den Attentaten vom 22. März 2016 mit den Worten: „Es ist ein Rendezvous mit der Globalisierung, mit der Realität der Kriege und Konflikte rund um Europa. Ein Europa, das zerfällt und sich fragmentiert wäre noch blinder und ungeschützter gegenüber dieser Bedrohung.“ Die Utopien von der heiteren Multi-Kulturalität sind in den sozialen Verteilungskämpfen untergegangen. Man kann auf der Brüsseler Seite des Kanals mit der Straßenbahn am Quai entlang fahren, wenn man denselben Weg nehmen will, den seinerzeit René Magritte von seiner Wohnung im Stadtteil Jette jeden Samstag mit der Tram Nr. 81 fuhr, um im Café Greenwich in der Rue de Chartreux Nr. 7 Schach zu spielen. Magritte wohnte mit seiner Frau in den 1930er Jahren in der Rue d’Esseghem, wo man die frühere Wohnung als kleines Museum rekonstruiert und zur Besichtigung frei gegeben hat, und wenn man dort die reihenhausgesäumten Straßen durchstreift, in der Magritte seinerzeit seinen Hund spazieren führte, hat man das Gefühl, an der Atmosphäre einer ruhigen, kleinbürgerlichen und etwas langweiligen Vorstadtidylle habe sich in all den Jahrzehnten wenig geändert. Eine Zeitenwende scheint hier jedenfalls noch nicht stattgefunden zu haben. Das Café Greenwich ist nicht weit von dem imposanten Gebäude der Börse entfernt. Die Straßenbahn fährt heute aber nicht mehr exakt dieselbe Strecke wie zu Magrittes Zeiten vom Friedhof Cimetière de Jette in die Brüsseler Innenstadt. Man muss jetzt nämlich am Gare du Midi in die Linie 51 einsteigen, die von der Endstation „van Haelen“ nach „Heysel“ fährt, um zu Magrittes damaliger Wohnadresse zu gelangen. Zu seinen Besuchen im Café Greenwich hatte René Magritte oft ein Bild mitgebracht, das er gerade fertig gemalt hatte, um es seinen Freunden dort zu zeigen. Die Runde am Cafétisch hatte sich jedes Mal für dieses neue Bild einen Titel ausgedacht, und Magritte hatte dann die Einfälle auf der Rückseite mit Kreide notiert, um sich später für einen dieser Titelvorschläge zu entscheiden. Ein anderes Stammcafé von René Magritte, in dem er auch seine allererste Ausstellung hatte, ist das „La Fleur en Papier Doré“ in der Rue des Alexiens 53. Dieses Café existiert heute noch. Vom Grote Markt mit dem berühmten Brüsseler Rathaus im Stil der Brabanter Gotik aus sind es nur wenige Minuten Fußweg bis zu diesem Lokal, das seinerzeit ein regelmäßiger Treffpunkt der belgischen Surrealisten und nach dem Zweiten Weltkrieg auch ein Stammlokal von Künstlern der „Cobra“-Gruppe war. Dicht gedrängt hängen überall kleine und mittelgroße Rahmen mit Briefen, Collagen, Gedichten, Ausstellungsankündigungen, Urkunden, Reproduktionen von Bildern und mit anderen Drucken, dazwischen Tafeln mit Sinnsprüchen. Über dem Durchgang zum Thekenraum hängt eine Tafel mit dem Text: „Jedermann hat das Recht, 24 Stunden am Tag frei zu sein“.


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