Ausstellungseröffnung Neue Nationalgalerie: Nan Goldin kritisiert Deutschland

25. November 2024 · Kulturpolitik

von Ingo Arend

„This will not end well“. Der Titel für die jüngste Retrospektive der amerikanischen Fotografin Nan Goldin, die derzeit durch Europa tourt, war schon vor vier Jahren festgelegt worden. Niemand konnte die Verwerfungen, die den Kunstbetrieb derzeit durchziehen, vorausahnen. Er erwies sich aber als prophetisch. Denn schlechter hätte die Eröffnung in der Station Berlin, dem Lebensmittelpunkt der Künstlerin in den subkulturell bewegten 80er Jahren, kaum ausgehen können. „Fuck Germany“, „Free Palestine“ oder „Yallah, Intifada“ lauteten die Slogans, mit denen eine Gruppe aufgebrachter Palästina-Sympathisant*innen eine Ansprache von Klaus Biesenbach, dem Direktor der Neuen Nationalgalerie, in der Goldins Schau gastiert, am Freitagabend zunächst unmöglich gemacht hatten – Palästinensertücher wurden geschwenkt, schwarz-weiß-grün-rote Flaggen wehten. Die dramatische Eskalation ist ein neuerlicher Beweis für die, vor allem in Deutschland festgefahrene Diskurslage seit der documenta fifteen von 2022 und der mörderischen Hamas-Attacke vom vergangenen Jahr. Denn das Symposium „Art and Activism in Times of Polarization“ zu Antisemitismus, Rassismus, Kunstfreiheit und Solidarität, mit der die Nationalgalerie die Goldin-Schau flankierte, ist der sichtbare Ausdruck des Drucks, insbesondere staatlicher Häuser, sich, im Sinne der BDS-Resolution des Bundestages von 2019, von jeder noch so kleinen Regung von Israel-Kritik und der Sympathie für die Sache der Palästinenser sogleich zu distanzieren – eine verheerende Entwicklung, die schon jetzt zu vielen Absagen von Ausstellungen geführt hat. Mit ihrer Unterschrift unter einen Aufruf des US-Kunstmagazins „Artforum“ vom Oktober 2023, der Israels Reaktion auf den Hamas-Ãœberfall geißelte, die Hamas aber erst nachträglich erwähnte, hatte sich die 71-jährige Jüdin Goldin zwar selbst angreifbar gemacht. Nutzte die Berliner Eröffnung aber zu einer beherzten Attacke auf die durchsichtige Strategie der Nationalgalerie, eine berühmte Künstlerin zu feiern, sich aber zugleich von den vermuteten, ideologischen Kollateralschäden ihrer Gesinnung zu schützen und sie zu einer Art Galionsfigur einer fiktiven, antisemitischen Internationale zu machen. Der Internationale Gerichtshof spreche von Genozid, die UN, der Papst, nur die Kunstwelt dürfe das nicht. „Are you afraid to hear this, Germany?“ rief die furchtlose AIDS- und Opioid-Aktivistin in die zum Bersten gefüllte Glashalle mit Verweis auf die 44.757 in Palästina von israelischen Streitkräften getöteten Menschen, „die Hälfte von ihnen Kinder“, an die 3516 Toten im Libanon und für „die 815 israelischen Zivilisten, die am 7. Oktober getötet wurden“. Die Strategie der israelischen Armee komme ihr wie die Pogrome vor, denen ihre jüdischen Großeltern entkommen seien. Sprach es und verschwand – ein tiefes Zerwürfnis mit ihrem einstigen Freund aus verwehten Berliner Tagen, Klaus Biesenbach, markierend. Auch lautstarker Protest Andersmeinender in den heiligen Hallen eines Museums ist legitim, inakzeptabel war dagegen der (erst spät gescheiterte) Versuch, Biesenbachs „I disagree“-Gegenrede zu Goldin durch rhythmische Sprechchöre ihrer Unterstützer zu canceln. Die Vehemenz des Versuchs ist freilich auch der Tatsache geschuldet, dass das offizielle Deutschland selbst dann ehern zu seiner Israel-„Staatsräson“ steht, wenn das gebetsmühlenhaft als „Selbstverteidigung“ deklarierte Töten in Gaza sich einem schleichenden Genozid zu nähern beginnt. Der nicht begründete Rückzug der Künstlerin Candice Breitz, des „Forensic Architecture“-Gründers Eyal Weizman und der Publizistin Masha Gessen aus dem Symposium darf als stille Solidarität für die indirekte Distanzierung von Goldin via Symposium gewertet werden. Handfeste Auswege aus der binären Diskursstruktur, gar konkrete Rezepte gegen Antisemitismus und Intoleranz im Kunstbetrieb konnte das von den Frankfurter Sozialwissenschaftler*innen-Paar Saba-Nur Cheema und Meron Mendel kuratierte Symposium am gestrigen Sonntag auch nicht weisen. Es sei denn, man nimmt schon die Offenheit, mit der die beiden die Unversöhnlichkeit der Debatte, den „Konformitätsdruck“ und die „Verdachtskultur“ identifizierten, als einen solchen. Es sei denn, man nimmt schon die bloße Tatsache, dass Panelist*innen wie María Inés Plaza Lazo, Herausgeberin der Zeitung „Arts of the Working Class“, die Medienkünstlerin Julia Scher, der „taz“-Korrespondent Andreas Fanizadeh, die Künstlerin Ruth Patir, der Münsteraner Schauspieldirektor Remsi Al Khalisi und die Künstler Osama Zatar und Leon Kahane sechs Stunden lang ohne Scheuklappen und Tumulte in der Berliner Staatsbibliothek über das Für und Wider des BDS oder des Boykotts diskutieren konnten, als Wiederaufnahme eines in den zurückliegenden Meinungsstürmen verlorengegangenen Differenzierungsvermögens, das sich nicht vorschnell auf eine Position festlegen lässt. Ohne dass allerdings die palästinensische Seite mit einer originären Stimme zu Wort kam. Deutschland, so ließe sich ein Konsens des kontroversen Symposiums festhalten, braucht keine Antisemitismus-Klauseln und Zensurbehörden. Die Tagung selbst war ein Beweis für die Notwendigkeit dessen, was Chema und Mendel forderten: Mehr „Streit und Diskurs“. Und auf der anderen Seite der Potsdamer Straße erinnerte die am ersten Eröffnungstag gut besuchte Ausstellung Nan Goldins an einen Wert, der in den Schützengrüben des Anti-Antisemitismus-Streits verloren zu gehen droht: Empathie.

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