Wolfgang Welsch
Zur Aktualität ästhetischen Denkens
Jean-Paul konnte 1804 in seiner “Vorschule der Ästhetik” sagen: “Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Aesthetikern”.1 Adorno hingegen hatte Anlaß festzustellen: “Was den gegenwärtigen Geisteswissenschaften als ihre immanente Unzulänglichkeit: ihr Mangel an Geist vorzuwerfen ist, das ist stets fast zugleich Mangel an ästhetischem Sinn. Nicht umsonst wird die approbierte Wissenschaft zur Wut gereizt, wann immer in ihrem Umkreis sich regt, was sie der Kunst attribuiert, um in ihrem eigenen Betrieb ungeschoren zu bleiben; daß einer schreiben kann, macht ihn wissenschaftlich suspekt.”2 Zwei Jahrzehnte nach diesem Diktum Adornos hat die Lage sich verändert: Was Adorno wünschte – daß “Differenziertheit als eine ästhetische Kategorie sowohl wie eine der Erkenntnis” erfaßt würde,3 ist eingetreten. Das Denken, das heute dominiert, ist ein ästhetisches Denken. Ich behaupte nicht, daß unsere Zeit von Ästhetikern wimmle, aber ich meine, daß viele der führenden Köpfe heute ästhetisch geprägt sind, und ich glaube vor allem, daß man dies heute nicht ironisch (wie Jean-Paul), sondern anerkennend konstatieren kann.
Ich frage im folgenden zunächst: Inwiefern besteht eine solche Dominanz ästhetischen Denkens? Sodann: Was ist das eigentlich, “ästhetisches Denken”? Ich frage des weiteren, warum dieses Denken heute dominant wird und wie es sich zu einer zunehmend ästhetisch und zugleich anästhetisch geprägten Realität verhält. Ich werde ferner fragen, welche Bedeutung Kunsterfahrung für ein solch ästhetisches Denken hat, und schließlich, wozu ein solches Denken gut ist.
1. Die Denker, die “an der Zeit” sind, sind ästhetische Denker
Ich will zunächst anhand einer Beispielsreihe ins Gedächtnis rufen, in welch auffallendem…