Jean Clair/Cathrin Pichler/Wolfgang Pircher
Wunderblock
Eine Geschichte der Modernen Seele
MESSEPALAST WIEN, 27.4.-6.8.1989
Die Oberfläche des Wunderblocks ist schriftfrei und von neuem aufnahmefähig. Es ist aber leicht festzustellen, daß die Dauerspur des Geschriebenen auf der Wachstafel selbst erhalten bleibt und bei geeigneter Belichtung lesbar ist…
Denkt man sich, daß, während eine Hand die Oberfläche des Wunderblocks beschreibt, eine andere periodisch das Deckblatt desselben von der Wachstafel abhebt, so wäre das eine Versinnlichung derart, wie ich mir die Funktion unseres seelischen Wahrnehmungsapparats vorstellen wollte.
Sigmund Freud, 1925
Die Idee der Seele ist, seit sie ihren sicheren Ort in der Religion verloren hat, in zwei Sphären gespalten: in das Reich des aufgeklärten Wissens und Erkundens und in die Sphäre der Imagination. Das vergangene Jahrhundert hat in den beiden so verschiedenen Sphären Vorstellungen von unserer inneren Welt hervorgbracht, die noch heute unser Wissen und unsere Einbildungskraft besetzen.
Die moderne Seele ist älter, als man denkt. Im revolutionären Paris des Jahres 1789 hatte sie schon eine kleine Vergangenheit. Ein in Wien zum Arzt promovierter Deutscher, Franz Anton Mesmer, hatte die vornehme Welt mit seiner neuen Therapie für nervöse Zustände in Aufregung und Begeisterung versetzt. Wenn ihn auch viele als Scharlatan verdammten, behauptete er doch, eine naturwissenschaftliche Erklärung der Seelenkräfte zu besitzen und anzuwenden. Das “magnetische Fluidum” hat seitdem nicht aufgehört zu fließen. Wenig später trat in Wien ein anderer deutscher Mediziner, Franz Joseph Gall, auf den Plan, der, als hervorragender Gehirnanatom autorisiert, behauptete, aus der Schädelform auf den Charakter des betreffenden Menschen schließen zu können. Die Seele, schon lange im Gehirn…