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Titel: ÜberLeben und Kunst. Bedingungen künstlerischer Existenz - Kunststudium – Experimente mit offenem Ausgang · von Ana Dimke · S. 132 - 143
Titel: ÜberLeben und Kunst. Bedingungen künstlerischer Existenz - Kunststudium – Experimente mit offenem Ausgang ,
Titel: ÜberLeben und Kunst. Bedingungen künstlerischer Existenz - Kunststudium – Experimente mit offenem Ausgang

Woher wir kommen, wohin wir gehen

Lebensphase Kunststudium
von Ana Dimke

Sich auf Kunst einzulassen, bedeutet bewusst eine offene, faszinierende Selbstentwicklung anzustoßen. Das Studium an einer Kunsthochschule kann kunstpropädeutisch als zur Praxis anleitende, Theorie vermittelnde und soziale wie pädagogische Begleitung in die Sphären der Kunst verstanden werden. Die internationale Kunsthochschullandschaft ist hinsichtlich der Ausrichtung des jeweiligen Lehrangebots ebenso vielfältig, wie auch hinsichtlich ihrer Finanzierung über öffentliche oder private Trägerschaft unterschiedlich teuer – was sich im angloamerikanischen Raum in erheblichen Studiengebühren niederschlägt.

Als klassisches international erfolgreiches Modell soll hier das gebührenfreie Studium der freien bildenden Kunst an den staatlichen Kunsthochschulen in Deutschland herangezogen werden, um kursorisch einige damit verbundene Erwartungen und Behauptungen zu betrachten. In der Rektorenkonferenz der Kunsthochschulen (RKK) haben sich die 24 staatlichen Kunsthochschulen und Kunstakademien zusammengeschlossen. „Die klassische Vorstellung vom Studium in den traditionellen Künsten wie Malerei und Bildhauerei verbindet diese Hochschulen; sie wird an einigen Kunsthochschulen und -akademien durch eine Vielzahl von weiteren künstlerischen, gestalterischen und medialen Studienrichtungen ergänzt.“1 Eine Besonderheit ist dabei, dass nur wenige von ihnen der Umstellung auf das Bachelor / Master-Modell gefolgt sind, da die meisten keine förderlichen Aspekte modularisierter Studienstrukturen für künstlerische Entwicklungsprozesse erkennen. Die Mehrheit von ihnen bietet somit nach wie vor ein zehnsemestriges Studium mit dem Diplom oder einem ähnlichen Abschluss an.

Vitale Räume

Die Begegnung mit einem konkreten Werk kann der Auslöser sein, bei einer bestimmten Künstlerin oder einem Künstler studieren zu wollen. Mehr als jeder andere Hochschultyp leben Kunsthochschulen von der Präsenz ihrer Mitglieder, die sie zu profilierten Kunstinstitutionen werden lassen. Bei den meist sehr gut besuchten jährlichen Rundgängen interessiert das Publikum besonders das die Ausstellungspräsentationen umgebende unverwechselbare künstlerische Klima. Die Entscheidung für ein Kunststudium wird auch von der Wahl eines bestimmten Studienortes begleitet. Hier zählen Aspekte wie die Attraktivität der Stadt, deren kulturelle Szene samt Museen, Galerien, Kunstvereinen, Off-Spaces etc., und das gesellschaftspolitische Engagement für Kunst vor Ort, die Infrastruktur sowie erschwinglicher Wohnraum.

Die Kunsthochschulen, besonders die älteren, ehemals königlichen Akademien unter ihnen, imposant und oftmals schön gelegen, sind traditionell mit Ateliers für Malerei mit gleichmäßigem Nordlicht sowie ebenerdigen, beeindruckend hohen Räumen für Bildhauerei ausgestattet. Hinzu kommen Arbeitsräume für Zeichnen, Performance, Installationen und andere Projekte. Die Werkstatttrakte für die verschiedenen Druckverfahren und für Holz, Metall, Stein, Keramik, Kunststoff, Textil und anderes bieten die grundlegenden Voraussetzungen für das künstlerische Arbeiten, ebenso die Labore für Fotografie, Film, Audio und computergestützte Medien. Des Weiteren ist neben Seminar- und Veranstaltungsräumen mindestens ein größerer Vorlesungsaal zu finden, häufig eine spezifisch sortierte Bibliothek, eine hochschuleigene Galerie für Ausstellungen von Studierenden und internationalen Gästen sowie ein Café.

Mit dem Katalog „Atlas 2013im Rahmen des Bundeswettbewerbs „Kunststudentinnen und Kunststudenten stellen aus“ wurde ein spielerischer Versuch unternommen, die Kunsthochschulen miteinander in Schaubildern zu vergleichen.2 Die bunten Tafeln, Karten und Grafiken bieten eine gute Übersicht der Kunsthochschullandschaft in Deutschland. Neben den recherchierten Informationen zu den Gründungsjahren, den Jahresausstellungen, der Infrastruktur wie den Abschlüssen geben jedoch die Angabe einer Durchschnittsfarbe oder eines Sternzeichens einen ironischen Wink zur Lektüre der Daten der in ihrer Besonderheit jeweils einmaligen Kunstinstitutionen. Mehr über die jeweilige Hochschule erfährt man, wenn man über die Betrachtung der Website und des Vorlesungsverzeichnisses, den Besuch von Partys und die Lektüre von Imagebroschüren hinaus aktuelle Publikationen – von Studierenden-Magazinen bis zu Katalogen von Kunstlehrenden und ihren Fachklassen – heranzieht. Insbesondere hauseigene Schriftenreihen geben Auskunft über die Beteiligung am Kunstdiskurs und das Selbstverständnis der jeweiligen Institution.3

Organisierte Lehre

Der den Studierenden zur Verfügung gestellte Raum zur praktischen wie theoretischen Entwicklung der eigenen Arbeiten und die ihnen von den Lehrenden individuell gewidmete Zeit sind die beiden hervorstechenden Merkmale der künstlerischen Lehre. Allen Studierenden steht idealerweise ein eigener Atelierplatz zu. Im etablierten Fachklassensystem sind den Kunstprofessuren dafür jeweils Räume zugeteilt, in denen die Studierenden arbeiten, im Plenum Gespräche mit der gesamten Gruppe und Einzelkonsultationen abgehalten werden. Wie dies im Einzelnen organisiert wird, bleibt der Lehrfreiheit überlassen. Das direkte Studium bei einer bestimmten Professorin oder einem Professor hat die Züge eines schützenden Soziotops. Hier werden neben der künstlerischen Praxis auch theoretische Inhalte wie soziale Fähigkeiten vermittelt, gemeinsame Einstellungen entwickelt und Differenzen ausgetragen.

In diesen Gemeinschaftsateliers lernen die Studierenden voneinander. Nicht zu unterschätzen ist also das Bildungspotential der Fachklasse selbst, denn hier werden Erfahrung und Wissen über alle Semester hinweg kontinuierlich ausgetauscht. Bei einem etwaigen Fachklassen- oder Hochschulwechsel steht dann zumeist nicht nur ein Umzug, sondern eine entsprechende Umorientierung in einen anderen Kontext an. Ko-Betreuungen sind möglich, aber nicht selten wird die gesamte Zeit des Hauptstudiums bei einem Lehrenden verbracht. Dies erscheint nicht verwunderlich, da diese circa vier Jahre die bedeutende künstlerische Entwicklungszeit sind, in der nicht nur freundschaftliche Beziehungen und persönliche Bindungen entstehen, sondern auch der interne Diskurs betrieben wird, der die weitere künstlerische Arbeit prägt und trägt.

Von der „Errichtung eines rein individualistischen Systems“ im 19. Jahrhundert profitieren die Kunstakademien bis heute.4 Vor dem Eintritt in eine bestimmte Fachklasse steht allerdings ein weiterer Auswahlprozess an. Erneut müssen hier die künstlerischen Arbeiten den Hochschullehrenden vorgestellt werden. Die Zusage eines Fachklassenplatzes ist schon deshalb von besonderem Wert, da damit die künstlerische Eignung erneut bestätigt wird. Eine weitere Steigerung dessen ist nach dem Diplom die „Meisterschüler*in“-Ernennung.

Ein anderes Lehr-Lern-Format ist das Projektstudium. Ein System von Kursen, in denen sich die Gruppen zu einer bestimmten Thematik jeweils neu bilden. Jedoch auch hier erscheint es möglich, bei einer künstlerischen Persönlichkeit von Semester zu Semester weiter zu studieren, obwohl mehr Durchlässigkeit und Flexibilität erzeugt werden sollte, um etwaigen „Meister-Schüler-Hierarchien“ entgegen zu wirken. Einerseits kann die besondere Fachlichkeit in der Bildenden Kunst zwar eher einer „romantischen“ Legendenbildung zugeschrieben werden und die Bildung von Klassen neben der produktiven Identifikation zu negativen Abgrenzungstendenzen, Konformismus und Cliquenbildung führen, andererseits kann, wenn semesterweise von Projekt zu Projekt geglitten wird, die Entwicklung der eigenen Position aus dem Fokus geraten. Egal welcher Struktur persönlich der Vorzug gegeben wird, im Idealfall fordern die Lehrenden durch ihre künstlerische Haltung heraus, gestalten das Lernklima, setzen Impulse, moderieren die Diskussionsprozesse der Studierenden und kritisieren deren bildnerischen Ergebnisse, individualisieren, intensivieren die künstlerische Praxis, um die jeweilige Position zu stärken, sie zu fördern und deren Werke unverkennbar werden zu lassen. Nicht umsonst ist die Angabe, bei wem studiert wurde, in vielen Lebensläufen und Kunstkatalogen zu finden, denn mit ihr positioniert sich die künstlerische Arbeit anfänglich im Kunstkontext. Manchmal bilden sich hierbei Produzentengalerien heraus. So hatten sich beispielsweise nach der Jahrtausendwende ehemalige Leipziger Kunststudent*innen in Berlin für das Galerieprojekt LIGA zusammengeschlossen, das mit dem eingetretenen Erfolg nach zwei Jahren wie geplant beendet werden konnte.5

Herausfordernde Erwartungen

Zu den Erwartungen von Studieninteressierten in der Bildenden Kunst zählt, dass neben den Atelierplätzen gut ausgestattete Werkstätten vorhanden sind, dass handwerklich praktisches und kunsthistorisches wie theoretisches Wissen vermittelt und ein Experimentierfeld ermöglicht wird. Begleitet von diffusen Vorstellungen, wie zum Beispiel später einmal erfolgreich in Museen auszustellen, sowie durch vielleicht familiär vorgeprägte Auffassungen, auf Grund eines etwaigen zeichnerischen Talents „etwas Besonderes“ zu sein, glauben viele daran, aus sich selbst heraus einen Beitrag zur Kunst leisten zu können. Diesen bildnerischen Elan im Fluss zu halten, kann ein wichtiger Impuls für ein künstlerisches Studium sein, ebenso Technik-Faszination in Bezug auf die Medien Fotografie oder Film.

Der erste Realitätsabgleich findet dann bei der Bewerbung mit einer Mappe an einer Kunsthochschule statt. Die künstlerische Eignung wird von Zulassungskommissionen in gestuften Prozessen geprüft und die Aufnahmequote fällt in der Regel im Verhältnis zur Anzahl der Bewerbungen sehr niedrig aus. Des Weiteren steht dem individuellen Optimismus die bekannte und keineswegs an den Kunsthochschulen verschwiegene Feststellung entgegen, dass nur etwa fünf Prozent der Absolvent*innen von ihrer Kunst leben könnten.6 Es klingt zynisch, die Gesamtheit der Freie-Kunst-Studierenden als kritische Masse zu sehen,7 dennoch wird damit ein scharfes realistisches Bild von der kapitalistischen Rohheit des Kunstmarktes gezeichnet, welches in die Kunsthochschulen hineingetragen wird – etliche Hochschulen reagieren mittlerweile darauf mit Zusatzkursen zur Professionalisierung, zum Selbstmarketing und zur Existenzgründung. Staatliche wie privatwirtschaftliche Unterstützung erfahren einige der Studierenden und Absolvent*innen zwar durch Stipendien, Preisgelder und Ankäufe, aber verständlich werden unter diesem Druck zumindest auch Wünsche nach Kollektivierung und die gänzliche Ablehnung der „Warenförmigkeit von Kultur“, wie sie seit Adorno und Horkheimer kritisch formuliert wird.8

Das direkte Studium bei einer bestimmten Professorin oder einem Professor hat die Züge eines schützenden Soziotops.

In diesem Sinne ist die Kunsthochschule auch ein Ort der Institutionskritik. Das stellt hohe Ansprüche an die Lehrenden, die, bei allem „kultivierten Narzissmus“, natürlich nicht ansatzweise die Idee haben, sich selbst zu lehren, sondern sich im Gegenteil ganz dem künstlerischen Potential ihres studentischen Gegenübers widmen. Dass die Kunsthochschulen zu übergreifender Selbstkritik fähig sind, hat beispielsweise Walter Grasskamp mit seinem Vortrag an der HFBK Hamburg 2017 aus seiner Münchner Akademieperspektive anhand der Benennung von „stummen Lernzielen“, wie das der „Selbstheroisierung“, erwiesen.9 Den gesellschaftlichen Bildungsauftrag erfüllen die Kunstprofessor*innen als „role models“ dafür, wie die Positionierung im Kunstsystem gelingt. Es kann also pädagogisches Engagement von ihnen erwartet werden, sowie Idealismus und ein hohes Maß an Kollegialität. Eine Voraussetzung für die Berufung auf eine Professur sind, neben der erfolgreichen künstlerischen Tätigkeit, ein Kunsthochschulabschluss und Lehrerfahrung.

Durch diese Einstellungsbedingungen werden künstlerische Erfahrung und soziokulturelles Wissen aus der Kunst mit den entsprechenden Verhaltensweisen tradiert. Dennoch ist die Gleichung, „gute Kunst“ ergibt „gute Lehre“, nicht so leicht aufzumachen. So ist es differenziert zu betrachten, wenn sich bei den Hochschullehrenden zuweilen zeitliche Engpässe bei ihren Lehraufgaben wegen der eigenen Ausstellungstätigkeit ergeben. Vor dem Hintergrund, dass man renommierte, erfolgreich tätige Persönlichkeiten beruft, die sich gleichzeitig um den künstlerischen Nachwuchs kümmern und zudem in der Selbstverwaltung der Hochschule tätig sein sollen, ist immer wieder neu auszutarieren, wieviel Abwesenheit vom Kollegium toleriert werden kann, denn nicht nur die Studierenden bekommen die zusätzliche Arbeitslast deutlich zu spüren. Gegenseitige Kritik ist jedoch vergleichsweise schwierig anzubringen und wird von strukturell Abhängigen kaum vorgetragen werden. Die Konkurrenz der Akademien um große Namen wird bei Berufungen indessen durch „Dreierlisten“ abgefedert. So gibt es, wenn der oder die Erstplatzierte nicht zusagt, üblicherweise zwei Alternativvorschläge.

Vor sogenannten „Leuchttürmen“ ist sogar zu warnen. Sie blinken zwar in der Dunkelheit, aber an deren Klippen kann man bekanntlich zerschellen, wenn man ihnen zu nah kommt. Faszination kann Persönlichkeiten zerstören – und noch vor zwanzig Jahren waren Sprüche wie „Wir werden Sie brechen“ oder „Vergessen Sie alles, was vorher war“ an dieser Stelle kein Scherz. Von der Zunahme von psychischen Erkrankungen bei Studierenden, insbesondere Depressionen,10 sind auch die Kunsthochschulen nicht ausgenommen.11 Bei aller Anziehungskraft und inklusiver Offenheit haben diese jedoch keine therapeutischen Kompetenzen. Die Konfrontation mit ihrer Art der Kunstkritik könnte sogar innere Konflikte verstärken. Hinzu kommt der seit jeher offensiv zur Schau getragene Alkoholkonsum,12 häufig eingebettet in Schwaden von Zigarettenrauch. Drogen zur Stimulation des Lebensgefühls sind in der Kunst kein unbekanntes Phänomen. In der Kooperation mit psychischen Beratungsstellen hinsichtlich spezifischer künstlerischer Dispositionen liegt hier bei den Hochschulen noch einmal eine besondere Verantwortung.

Nur etwa fünf Prozent der Absolvent*innen der Kunsthochschulen können von ihrer Kunst leben.

Eine konkrete strukturelle Anforderung ist die Steuerung von Zugängen und Abgängen zum Studium. Staatlicherseits wird insbesondere die Einhaltung von Regelstudienzeiten angemahnt, denn Überhänge sind nicht ausfinanziert. Neben der Benachteiligung von neuen, nachrückenden Studierenden, wenn die Studiendauer von denen, die einen Studienplatz besetzen, deutlich überdehnt wird, ist zudem fraglich, ob eine längere Zeit an der Kunsthochschule, oder nicht doch eher ein zügiger Ablöseprozess aus dem betreuten, kunstpropädeutischen Kontext effektiver zu einer unabhängigen Positionierung führt. Sehr große Fachklassen lassen zwar einerseits auf die Beliebtheit und das Engagement der Hochschullehrenden schließen, andererseits auch Rückschlüsse darauf zu, wie intensiv das Studium der Einzelnen bei aller künstlerischen Freiheit betreut werden kann.

Responsive Konstanten

Mit einem pluralistischen Lehrangebot zur Kunst, wobei die Theorie an einer Kunsthochschule allenfalls als das Künstlerische begleitend anzusehen ist, wird auf aktuelle gesellschaftspolitische Themen wie Chancengleichheit, Geschlechtergerechtigkeit, Rassismus, Postkolonialismus, Inklusion und Digitalität reagiert. Allmählich erreichen auch der „animal turn“, der eigentlich schon seit der Jahrtausendwende auf der gesellschaftspolitischen Agenda steht, wie auch Fragen des Klimawandels und der Ökologie die akademische Lehre. Damit werden Forderungen nach einem inklusiven, ökologisch nachhaltig durchdachten, vegan ausgerichteten, ressourcenschonenden Lehrbetrieb virulent. Hinzu kommen kunstwissenschaftliche, philosophische und kunstpädagogische Themen, die jeweils aktuell aus den Forschungsgebieten der spezifisch profilierten Wissenschaftler*innen gesetzt werden.

Die über einhundert Jahre alte Auffassung aus dem Bauhaus-Manifest (1918), dass „Kunst nicht lehrbar“ sei, obwohl gerade im Bauhaus erstmals der Versuch unternommen wurde, Kunst auf allgemeingültige Prinzipien und Regeln zurückzuführen, säte den grundlegenden Zweifel an vorher festgelegten Methoden in der künstlerischen Lehre.13 In seiner weitsichtigen Analyse „Das Ende des Bauhaus-Modells“, arbeitet Thierry de Duve 1992 die sich historisch ablösenden Begriffszusammenhänge von „Kreativität“, „Haltung“, „Medium“, „Praxis“ heraus und warnt vor dem postmodernen Diktum der Dekonstruktion, welches sich auf die künstlerischen Praxis sterilisierend auswirke.14 In der künstlerischen Arbeit kann sich indessen der theoretische wie gesellschaftspolitische Diskurs individualistisch oder sogar introspektiv gewendet widerspiegeln, indem Begriffe diskutiert und künstlerisch erprobt werden. Die ästhetische Vielfalt entsteht durch das verwendete Material, im Experiment, über die technologischen Medien, das handwerkliche Können oder den forschenden Dilettantismus, das feinsinnige Philosophieren oder das plumpe Provozieren.

Im akademischen Resonanzraum geht es zentral um „artistic agency“, also darum, die Befähigung zu erhalten, künstlerisch handlungsfähig zu sein. Die in diesem Text abgebildeten künstlerischen Arbeiten von Hochschullehrenden und ihren Studierenden sind dafür beispielgebend: Prof. Christine Streuli, UdK Berlin, mit ihren Meisterschülerinnen der Bildenden Kunst Marta Djourina (2018) und Jane Garbert (2019) sowie Aline Schwörer, die sich nach ihrem Master of Education im Kunstlehramt (2020) derzeit im Absolvent*innen-Studium befindet; und Prof. Oliver Kossack, HGB Leipzig, mit seinen derzeitigen Meisterschüler-Studierenden Lucia Graf und Robert Marchewka sowie Georg Weißbach, Diplom (2015), Meisterschülerabschluss (2017), der bei ihm und Astrid Klein studiert hat.

Wie es sich im Einzelfall auch gestaltet, ob ein Kunststudium zur erhofften künstlerischen Karriere führt, ob es sich lohnt, diesen Lebensweg fortzusetzen oder es bei einer wertvollen, einzigartigen Lebensphase zu belassen, viele der Studierenden bleiben der Kunst eng verbunden oder wandern zu anschlussfähigen beruflichen Feldern hinüber: Lehrer*in, Kurator*in, Galerist*in, Journalist*in, Verleger*in, Bibliothekar*in, Grafiker*in, Barbetreiber*in, Händler*in, Agent*in oder Handwerker*in. Die Entscheidung, Kunst zu studieren, ist eine herausfordernde, aufregende Wahl, bei der sich die Entschlossenen jedoch auf die gesellschaftliche Unterstützung, auch durch das politische Engagement der Kunsthochschulen, verlassen können.

Ana Dimke ist seit 2006 Professorin für Kunstpädagogik / Kunstvermittlung an der Universität der Künste Berlin (UdK Berlin). Zwischenzeitlich war sie von 2011 bis 2016 Rektorin der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB), von 2012 bis 2016 Sprecherin der deutschen Kunsthochschulrektorenkonferenz (RKK) und von 2007 bis 2011 Dekanin und Vizepräsidentin der Universität der Künste Berlin (UdK Berlin). Nach ihrer Promotion zur Künstlertheorie von Marcel Duchamp hatte sie von 2002 bis 2006 eine Juniorprofessur für Kunst und ihre Didaktik an der Bauhaus-Universität Weimar inne. Ihre Forschungsinteressen umfassen zeitgenössische Kunsttheorie, Kunstvermittlung in schulischen und außerschulischen Räumen sowie als aktueller Schwerpunkt kunstpädagogische Animal-Studies.

ANMERKUNGEN

1 Rektorenkonferenz der Kunsthochschulen (RKK) https://www.kunsthochschulen.org abgerufen am 22.10.2020.
2 Atlas 2013. Kunststudentinnen und Kunststudenten stellen aus. 21. Bundeswettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, Ausstellungskatalog HGB Leipzig, Berlin 2013.
3 Beispielsweise die vom Rektor (2004–2014) und Maler Winfried Virnich herausgegebenen Reden zur Semestereröffnung an der Kunsthochschule Mainz.
4 Pevsner, Nikolaus: Die Geschichte der Kunstakademien. München 1986. S. 221.
5 Hartlieb-Kühn, Carola: Galerie LIGA schließt ihren Ausstellungsraum, 21.04.2004, http://www.art-in-berlin.de / incbmeld.php?id=535 abgerufen am 14.9.2020.
6 Überlebensrate 4%. Aktuelle Frontberichte aus der Kunstakademie. Hrsg. Werner Büttner. Material Verlag der HFBK Hamburg 2018.
7 Siehe Kube Ventura, Holger: FUNKTIONEN BILDENDER KUNST AKADEMIE KOLONIE. In: Die Akademie ist keine Akademie. Eine kritische Betrachtung der Rolle der Künstler, Akademien und Kunsthochschulen, ihrer Auswirkung auf Kunst und Kunstmarkt, aber auch ihrer Abhängigkeit in Staat und Gesellschaft. 1999. https://artrelated.net / sic / publication / 3933809258 / holger-kube-ventura.html abgerufen am 15.9.2020.
8 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug. In: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1986. S.128–176.
9 Grasskamp, Walter: Die Legitimität der Kunstakademie. In: Überlebensrate 4 %. S.45–48.
10 Grobe, Thomas G./ Steinmann, Susanne / Szecsenyi, Joachim: Arztreport 2018. Schriftenreihe zur Gesund heits analyse, Band 7. Hrsg. BARMER Hauptverwaltung. Wuppertal 2018. S.21.
11 Auerbach, Randy P./ Mortier, Phillipe / Bruffaerts, Ronny, et al: WHO World Mental Health Surveys International College Student Project: Prevalence and distribution of mental disorders. Journal of Abnormal Psychology 2018, S. 623–638.
12 Grasskamp, Walter: Die Legitimität der Kunstakademie. S. 36.
13 von Rüden, Egon: Zum Begriff künstlerischer Lehre bei Itten, Kandinsky, Albers und Klee. Berlin 1999.
14 de Duve, Thierry: Das Ende des Bauhaus-Modells. Analyse. In: Akademie zwischen Zukunft und Lehre. Hrsg.: Zacharopoulos, Denys. Wien 1992. S. 23 – 28.