Verschiebungen, Verdichtungen, Antizipationen, Rückblicke
»Wir wissen, daß das Verdrägte uns immer verfolgt«
Jochen Gerz im Gepräch mit Jacqueline Lichtenstein und Gérard Wajcman
J. L. und G. W.: Es ist nicht das erste Mal, daß Ihre Arbeit mit Unsichtbarkeit zu tun hat. Und mit der Bedeutung und der politischen Wirkung von Unsichtbarkeit. In Hamburg haben Sie 1986, zusammen mit Esther Shalev-Gerz, ein Mahnmal gegen den Faschismus aufgerichtet, das im gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu einem Teil sichtbar ist, dessen Bestimmung es aber ist, mit der Zeit unsichtbar zu werden. Es handelt sich um eine 12 m hohe Säule mit quadratischem Querschnitt (1 x 1 m), die mit Blei beschichtet ist und auf der die Passanten aufgefordert sind, ihren Namen einzugravieren. Jedesmal, wenn die für die Unterzeichnenden erreichbare Fläche voller Signaturen ist, wird die Säule um diesen Teil in den Boden versenkt. Wenn der letzte Namenszug geschrieben ist, wird das Mahnmal verschwunden sein. Ist das Mahnmal in Saarbrücken in der Folge von dem von Hamburg zu sehen?
J. G.: Das Mahnmal von Harburg entspricht einem etwas anderen Projekt. Es ist so, als würde man einen Mark Tobey auf einem öffentlichen Platz installieren, damit jeder innerhalb des Bildfelds Spuren hinterlassen oder es zerreißen könnte. Ich glaube auch, daß das Tabu der Spur im zeitgenössischen Deutschland, der Signatur also als Nachweis von Vergangenheit, eine Rolle hinsichtlich der Art und Weise gespielt hat, in der viele Leute reagiert haben.
Immerhin, wenn das Projekt auch von vornherein eine Aufforderung an Passanten einschloß, ein Mahnmal gegen den Faschismus zu signieren, so waren…