vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Titel: Kunst und Spiel II · von Petra Schröck · S. 48 - 57
Titel: Kunst und Spiel II , 2005

Petra Schröck
Wir spielen immer

Zur Ästhetik von Spielfiguren in der Kunst und ihr Verhältnis zur Populärkultur.

Im Spiel geht alles” heißt es lapidar in einem Erziehungsratgeber. Wenn kleine Kinder ihre Unterlegenheit satt haben, schlüpfen sie in die starken Rollen von Löwen, Piraten oder Monstern. Der Zusammenhang zwischen kindlichem Spiel und Entwicklung der Gehirnkapazität ist eine ebenso belegte These wie der Einfluss von Computerspielen auf Kreativität und Sozialverhalten. Laut Vorwort einer psychologischen Fachzeitschrift vereint das Spiel in sich die widersprüchlichsten Aktivitäten des Menschen, es gründet sich auf Freiheit und Regelhaftigkeit, es ist zweckfrei und ermöglicht Lernprozesse.1 Überhaupt fächert das Wörtchen Spiel im deutschen Sprachgebrauch nahezu das ganze Lebenspanorama auf, so das man fern jeglicher Kontextualisierung die Leben-ist-ein-Spiel-Metapher wörtlich nehmen kann: Babyspiel, Ferienspiel, Gedankenspiel, Glücksspiel, Kriegsspiel, Liebesspiel, Tennisspiel, Endspiel. Es gibt Spiele für Mädchen, Jungen, Katzen und Wellensittiche, Gesellschaftsspiele und Gewinnspiele, dumme Spiele und hochintelligente, harmlose und gefährliche. Im Spiel geht alles, da wird gepokert, gereizt, geboten, gestochen und getrickst. Spielen ist eine anthropologische Konstante, bei der der Mensch im Schiller’schen Sinne erst zum Menschen wird. Ist “Spiel”, wie Ludwig Wittgenstein feststellte, ein “Begriff mit verschwommenen Rändern”, so ist er in Verbindung mit hochgestochener Kunstbegriffsrhetorik doppelt schwer zu fassen und beliebig anwendbar. “Spielerisch” als ästhetische Kategorie und Synonym für künstlerische Leichtigkeit ist meist die Jokerkarte im Kritikerjargon. Besonders seit dem 20. Jahrhundert mit seinen komplexen Crossover- und Kunst=Leben – Diskursen sowie explizit interaktiven Praktiken ist die Schnittstelle von Kunst und Spiel ein integrativer Bestandteil von Kunstproduktion und Kunstbetrieb. Ob Spielfigur oder Spielinitiator, Spielverderber oder Mitspieler, Kritiker oder Schiedsrichter – immer wieder gelingt es Künstlern, das Reglement des Spiels zu demaskieren und als “widerständige Praxis” ins “wirkliche Leben” zu übertragen.

Kinder, Puppen, Clowns und Zauberer

Jedes organisierte Spiel ist durch ein Regelwerk strukturiert. Dieses macht das Spiel erst möglich und verhindert, das es sich in anarchische Tätigkeit verliert. Es organisiert Dauer der Partie und Zwangsmaßnahmen bei deren Nichtbefolgung und legt als reglementiertes Ziel die höchste Punktzahl fest. In der Kunst werden herkömmliche Spielvorstellungen unterlaufen, die Regel verweigert oder neue Regeln außerhalb des Punktezählens aufgestellt.2 Claude Levi-Strauss sieht das Spiel mit dem Ritus verwandt “… aber der Ritus, der auch ein ‚Spiel’ ist, ähnelt vielmehr einer bevorzugten, aus allen möglichen herausgehobenen Partie, denn nur diese ergibt eine bestimmte Art von Gleichgewicht zwischen den beiden Partnern.”3 Für sämtliche Spiele konstatiert Huizinga, dass sie einerseits mit einer Illusion operieren, von der die Spieler getäuscht werden, andererseits aber den Moment des Durchschauens der Illusion verlangen. Als “heiligen Ernst” bezeichnet er die exzessive Dimension des Spiels.4 War es im Surrealismus das lustbetonte zweckfreie Spiel des Denkens nach allen Regeln des Traumes, ist Bruce Naumans ritueller Einsatz von Spielfiguren Vorläufer jener Performance-Strategien, die die künstlerische Praxis nachhaltig in Richtung Partizipation erweitert haben. Für Nauman bilden Clowns, Grimassenschneider und Pantomimen Schlüsselfiguren, da sie als Produzenten von professionellen Lachnummern anonyme Abstraktionen sind. In der Videoarbeit “Double No” (1988) rufen zwei auf und ab springende Hofnarren angesichts einer unsichtbaren Bedrohung unablässig “No”. Die auf zwei übereinander gestapelten Monitoren gezeigten trotzigen Verweigerer wirken wie tobsüchtige Kinder und erinnern in der spiegelartigen Doppelung an das Bildprinzip der Spielkarte. In der repetitiven Widerstandspose liegt eine aggressive Wirkung, die zu Antonin Artauds “Theater der Grausamkeit” und Samuel Becketts absurdem Theater führt. Vielleicht sieht sich Nauman selbst als Hofnarr, genießt doch der Künstler seit jeher das Privileg des Außenseiters und das Künstlerleben den Ruf “einer Art immerwährenden Karnevals”5. Der Raum des Wartens hat sich in der Videoinstallation “Clown Torture” (1987) durch den obsessiven Wiederholungszwang in eine Folterkammer der Sinne verwandelt. Hier jagt ein Unbekannter eine ganze Riege von Clownstypen durch einen Spießrutenlauf von Erniedrigungen und Geschicklichkeitsspielen. Im Jammerzustand des Clowns kann der Betrachter als Zeuge und Voyeur eigene Charakterschwächen erkennen. Dass hinter der Maske der Clownsfigur gleichzeitig das verführerische Potenzial von Harmlosigkeit und Horror lauern kann, zeigen beispielsweise Stephen Kings Roman und Verfilmung “Es”, in denen der tanzende, kindermordende Clown Pennywise das pure Böse verkörpert und der Mac Donalds-Werbefigur zum Verwechseln ähnlich sieht. Da in den USA Clowns in ihrer plakativen Variante häufig als Werbeträger fungieren und Stephen King seismographisch das Unheimliche der Verführbarkeit aufspürt, scheint eine Zufälligkeit ausgeschlossen. In Stanley Kubricks “Uhrwerk Orange” üben Alex de Large und seine Droogs ihr ultrabrutales peinigendes Gewaltspiel mit zynischem Humor in Clownsmasken aus.6 Spaß und Schrecken, Lustigkeit und Wahnsinn in der undurchdringlichen Maskierung des schillernden Zirkusclowns hat die Rollenspielerin Cindy Sherman in ihrem jüngsten Zyklus “Clowns” (2004) visualisiert. Dabei hat sie sich in ihren Fotoarbeiten besonders den dunklen Seiten der kreischend bunten Gestalten gewidmet und damit das stilistische Klischeerepertoire, das in der ambivalenten Clownsfigur angelegt ist, auf die Spitze getrieben. Mal bösartig mit diabolischem Grinsen, mal entrückt und anmutig, dann wieder von aufgesetzter Albernheit transformiert die Künstlerin ihr Gesicht in die burleske Maske der erstarrten Fratze. Denn hinter den Masken, Perücken, Kragen und Hüten lauern Abgründe und letztlich der Tod. Durch digitale Bildbearbeitung erzielt sie bonbonfarbene ineinander verlaufende Hintergründe, die eine verfremdete Zirkusästhetik suggerieren. Die Skulpturen von Paul McCarthy geben der erschreckend fröhlichen Walt-Disney-Welt der Puppen in grotesk provokanter Weise ihre ausgeblendete Sexualität zurück. Gleiches gilt für die mit gesellschaftskritischem Biss versehenen Objekte von Mike Kelley: Stofftiere und Puppen, die geschlechtsspezifische Spielgewohnheiten und frühkindliche Unterdrückungsstrategien bloßstellen. Puppen und ihre pansexuellen Obsessionen waren schon ein Leitmotiv der surrealistischen Skulptur der dreißiger Jahre von Victor Brauner über Yves Tanguy bis Oscar Dominguez. Der Schweizer Jean Tinguely schuf mit seinen beweglichen “Meta-matics” Apparate, die “sowohl als Spielzeug benutzt werden (können) wie auch zur Verwirklichung beachtenswerter abstrakter Zeichnungen und Gemälde.”7

Entgegen den Strategien des Marktes dient die längst nicht mehr unverdorbene und reine Spielzeugwelt Künstlern als Ausgangsmaterial. Der in Berlin lebende Amerikaner Richard Posner konfiguriert aus allerlei Fundstücken seine Welt der “Gwobots” (2004), kleine aberwitzige Assemblagen aus altem Kinderspielzeug, die gleichzeitig seinen sarkastischen Kommentar zu Bushs globalem, von fundamentalistischer Religiosität triefenden Anti-Terror-Feldzug abgeben. Die ironisch trashigen Neukombinationen der Plastikspielvehikel werden mit bunten Kabelbindern zu kleinen dreidimensionalen Gebilden zusammenmontiert und wie Bilder an die Wand gehängt. Da kämpft Donald Duck auf einem ADAC Straßenwachtauto mit einer Scheibe Toastbrot oder ein Schwertkämpfer mit einem Papagei auf einem Spielzeugauto. Sprachlich hinterfängt sie der anagrammatische Titel, dessen einzelne Buchstaben wiederum ein bitterböses Wortsspiel auslösen (“T – Tausende getötet und verstümmelt bei Sabotage von Plastikspielvehikel-Fließband.”) Carsten Höllers absurde, zynisch anmutende Vorstellungen von Spielzeug gipfeln in den bekannten Gerätschaften zur Dezimierung des Nachwuchses: ein Fahrrad mit Sprengsatz, ein Sandkasten voller Quallen, ein Geländewagen, aufgerüstet zum Kinderfang, ein gekippter Laufstall, der als Falle über einem Überraschungsei schwebt. Diese praktischen Vorschläge sind eine ironische Anmahnung zum “Verzicht auf die Produktion eigener Kinder”, um den “dem Leben inhärenten mechanischen Reproduktionsprozess” zu unterbrechen.”8

Christian Jankowski, die “Humorhoffnung des deutschen Kunstbetriebs” demontiert mit diversen fintenreichen Schelmenstücken dessen Codes und Rituale. In “Galerie der Gegenwart, 2097″(1997) und “The Matrix Effect” (2000) spielen Kinder die Rollen von Künstlern, Kuratoren und Museumsdirektoren. Je mehr sie auf Grund der ungewohnt hölzernen Redefloskeln über Kunst aus ihren einstudierten Rollen fallen, desto mehr ziehen sie Sinn und Unsinn des zeitgenössischen Kunstbetriebs ins Lächerliche. Jankowski sucht sich stets Helfershelfer aus dem außerkünstlerischen Bereich, die unfreiwillig zu Mitspielern des großen Kunstspiels werden wie in dem bekannten Biennale Beitrag “Telemistica” (1999), wo der abgefilmte Dialog mit italienischen TV-Wahrsagern selbst zum erheiternden Kunstwerk wurde. Auch in seiner Arbeit “Hollywoodschnee” (2004) geht es um filmische Visionen. Persönlichkeiten aus der Filmszene, Verleiher, Produzenten, Kritiker und Filmförderer formulieren auf Bitte des Künstlers vor der Kamera ihre persönliche Vorstellung von einem idealen Filmereignis. Während ihrer gesprochenen Statements werden sie plötzlich von verschiedenen Special Effects wie Explosionen, Feuer oder Schneefall überrascht. In mystischen Verwandlungen durch professionelle Zauberer, bei denen der Künstler in eine Magritte’sche Taube, ein Kunstvereinsdirektor in einen herzigen Pudel und das Publikum in eine blökende Herde Schafe verwandelt wurden, kommt es wiederum zu einer humorvollen Verdrehung des Kunstbetriebs und dessen irrationaler Funktionszusammenhänge9.

Doppeltes Spiel: Der Künstler als Spielfigur und Spielleiter

In vielen performativen Werken, nimmt der Künstler selbst die zentrale Rolle als Spielfigur ein. Seine physische Präsenz gewährleistet subjektive Erfahrung und Spielkontrolle zugleich. Mit dem Gestus der Selbstinszenierung gewinnt das Rollenspiel eine autobiografische Facette. Die französische Künstlerin Sophie Calle ist Fotografin, Autorin, Detektivin, Soziologin und vor allem ihre eigene Kunstfigur: Striptease-Tänzerin, Zimmermädchen, Museumswärterin, Garderobiere oder Romanfigur, um nur einige ihrer Rollen zu nennen. Akribisch genau verwandelt sie sich in die verschiedenen Identitäten, die sie kreiert. Im Sinne einer Überlebensstrategie erfindet sie ihre eigenen Spiele, um “das Leben zu verbessern” und es zu strukturieren. Prosaisch berichtet sie ihre oft unglaublichen “Wahren Geschichten” (1984 – 2003), scheinbar belegt durch die simple Abbildung von Beweisstücken in der Art von Tatortaufnahmen. Die Lust am Verkleiden, am Rollentausch geht bis zur Infragestellung der eigenen Identität. 1981 engagiert ihre Mutter in ihrem Auftrag einen Detektiv der Firma Duluc, der sie einen Tag lang beschatten soll, um ihre Aktivitäten in Protokoll und Fotos als Beweismaterial festzuhalten (“The Shadow”). Nüchtern registrierend und kühl dokumentarisch werden die Beobachtungen der Beschattungsaktionen in Text und Bild aufgelistet und gegenübergestellt. Im doppelbödigen Detektivspiel werden Schein und Sein verwischt und letztlich bleibt unklar, wer hier wen beobachtet. So sehr es Sophie Calle genießt, in die Privatsphäre eines anderen einzudringen, so sehr inszeniert sie das Spiel mit ihrer eigenen Biografie im Spannungsfeld zwischen Wahrem und Erfundenem. Die raumfüllende Installation “Bedroom” (2003) ist wie der spurengesicherte Tatort eines Verbrechens konstruiert. Im Zentrum zwei verlassene Hotelbetten. Darum ein rätselhaftes Sammelsurium nummerierter Beweisstücke: eine tote Katze, ein opulenter Blumenstrauß, der umgekippte Teekessel, ein rotes Kleid, ein BH, eine Schreibmaschine. Ein langer Tresen dient als Barriere und zugleich als Lesepult für die Schaulustigen. Jeder Gegenstand ist ein Indiz für eine Geschichte – mal abenteuerlich, mal banal – die man glauben oder bezweifeln kann. Ist es wirklich wahr, dass der notorisch Flachbrüstigen plötzlich ein Traumbusen wuchs oder die vom Vater beauftragte Nasenkorrektur am Selbstmord des Schönheitschirurgen scheiterte?

Das Werk von James Lee Byars (1932 – 1997) ist stets mit der Suche nach dem künstlerischen Ausdruck des “perfekten” Moments verbunden. “Perfekt” bezieht sich auf sein Konzept, den zwischenmenschlichen Kontakt in einem präzise gestalteten Moment zum Gesamtkunstwerk zu erheben. Immer wieder inszeniert er sich selbst als flüchtige Erscheinung. Dabei wird die Auseinandersetzung mit dem Tod zu einem höchst poetischen Spiel mit dem zeremoniellen Augenblick. “The Play of Death” (1970) ist das minimalste Mysterien-Spiel, bei dem Aktion, Performance und Theater an einem Nullpunkt zusammentrafen.10 Wie in einem mittelalterlichen Glockenspiel treten am 12.12. Schlag 12 Uhr aus zwölf Fenstern einer Etage des Dom-Hotels zwölf Doktoren in Smoking auf zwölf Vorbalkone, verharren statuarisch für feierliche zwölf Sekunden und ziehen sich dann wieder zurück. In der Mitte ganz in Schwarz mit Augentuch und Zylinder der Künstler. Nur eine Handvoll verblüffter Passanten, die zufällig am Ort sind, verfolgen das rätselhafte Spiel, das ausschließlich unmittelbar erfahren werden konnte. Byars verweigerte grundsätzlich jegliche Dokumentation seiner Auftritte, im Gegensatz zu den meisten kameravermittelten Performances anderer Künstler. Bis ins kleinste Detail geplant, wird das eigentliche Erlebnis des Spiels dem Wirken des Zufalls überlassen und gewinnt damit eine philosophische Dimension.

Einen ausgesprochenen Hang zur medialen Umsetzung demonstrieren hingegen die “Abreaktionsspiele” des Wiener Aktionismus mit ihrer kompromisslosen Verweigerung, die Gesellschaft über ihre Abgründe hinwegzutrösten. Hermann Nitsch fasst sein “Orgien-Mysterien-Theater” als eine Art Triebentladung auf, bei der gestaute Energien formal bewusst gemacht werden sollen. Im extrem konservativen gesellschaftlichen Umfeld der späten fünfziger Jahre entsteht Nitschs provokantes Aktionstheater, das in der radikalen Tabuverletzung gegenüber moralischen oder religiösen Werten mündet. Aus der literarischen Idee der Schaffung eines Urdramas der großen tragischen Mythen der Weltreligionen entwickelt der Künstler die Spielregeln des Orgien-Mysterien-Theaters. Das zentrale Motiv der Kreuzigung des Opfers sowie das rituelle Durchführen und Vorzeigen von Objektcollagen an Tischen sind eingebettet in ein genau festgelegtes dramaturgisches Gerüst eines riesigen Festes. Im Zentrum der symbolbeladenen Dramaturgie stehen das Blutschütten und das sogenannte “Lammzerreißungsmotiv”. Das Endkonzept des Gesamtkunstwerkes des Orgien-Mysterien-Theaters ist ein sechs Tage umfassendes Spiel in einer eigenen exterritorialen Architektur. Zwei übergeordnete Elemente prägen das Konzept: Einerseits der Begriff des “Festes” und andererseits die Möglichkeit der direkten Teilnahme des Publikums am Spiel selbst. Der liturgisch geordnete Umgang mit Schlachtung und geschlachteten Tieren, die brachialen Attacken auf organisches Material kombiniert mit nackten Spielteilnehmern werden vom Künstler als Choreograf der dramatischen Gesamtaktion gesteuert. Nitsch beabsichtigt, dass der Spielteilnehmer durch den Automatismus der rauschhaften Ekstase mit dem Sein versöhnt werden soll.

Um das amüsante Spiel mit Paradoxien und Maskeraden geht es in den perfekt inszenierten Filmen von Rodney Graham. Im “Kostümfilm” “Vexation Island” (1997) spielt Graham einen einsamen Schiffbrüchigen, der immer wieder an der absurden Logik einer auf dieselbe Stelle seiner Stirn fallenden Kokosnuss scheitert. Eine Robinsonade des Komischen, ein moderner Sisyphos, der chancenlos bleibt, obwohl der Papagei den Gestrandeten immer wieder vor dem Kommenden warnt. Lange passive und kurze aktive Phasen folgen aufeinander in einem zwingenden Rhythmus ewiger Wiederholung, als Bedingung des absurden Spiels: Hoffnung auf Rettung und Gewissheit, dass diese nicht möglich ist. Vanessa Beecroft instrumentalisiert Models als enthistorisierte, ästhetische Puppen zu statuarischen Tableaux vivants, arrangiert sie in einem rein visuellen Spektakel zu einem lebendigen Kunstwerk. Die hoch artifizielle Bildsprache ihrer inszenierten Life-Performances speist sich aus den unterschiedlichsten Quellen, aus Kunstgeschichte, Werbung, Mode, Film, Musikvideos, Hollywood. Für jedes Szenario benutzt Beecroft mehr oder weniger identische Körpertypen, um den Eindruck des Stereotypen und den speziellen “Look” jenseits jeglicher Individualität auf die Spitze zu treiben. Dazu stellt die Künstlerin drei einfache Regeln auf: Beweg dich nicht, sprich nicht, reagiere nicht auf das Publikum. Diese Regeln haben die ästhetische Funktion, die Spielfiguren zu einem klassisch komponierten Bild zu vereinen.

Ernste Spiele: Spielfiguren als gesellschaftliche Metapher

Im Herbst 2001 fotografiert Andreas Böhmig eine Gruppe Jugendlicher, die zwischen Baracken und Felsenhöhlen in einem Waldgelände in Südfrankreich ein undurchschaubares Spiel bewaffneter Konfrontation ausüben. Ausgestattet mit Kohlendioxid angetriebenen Gotcha-Waffen, Handschuhen und Kampfhelmen pirschen sie sich an ihre Opfer heran und beschießen sie nach bestimmten Regeln mit Farbpatronen. Unter dem Titel “Spieler müssen einen hohen Adrenalin-Schub bewältigen”, entliehen aus der Selbstbeschreibung des Paintball-Vereins in Arles, porträtiert der in Leipzig ausgebildete und in Berlin lebende Künstler Teilnehmer und Nahkampfszenen des in der “Spaßgesellschaft” der 90er entstandenen Guerillaspieles. Bei dieser Spielart, die einen eigenen “Nations World Cup” ausrichtet, muss die gegnerische Flagge erobert werden. Böhmig geht es in dieser Inszenierung zwischen Spiel, Sport und Krieg um die fragwürdigen Formen der medialen Repräsentation vor dem allgemeinen Hintergrund der Gewaltdarstellung. Bereitwillig posieren die blutjungen Männer für seine Kamera, elegant, selbstgefällig und cool herausfordernd in Haltung und Gestik beim Zielen, beim Schießen, beim Vorzeigen ihrer Wunden. Ob knabenhaft unsicher oder protzig muskulös, die Teilnehmer spielen mit den alten Männermythen vom siegreichen Überlebenskämpfer, tapferen Kameraden oder einsamen Helden. Dabei werden Analogien zu typischen Werbecodes für die jugendliche Zielgruppe erkennbar, die als Grundlage für Identifikationscodes fungieren. Diese Images entspricht den zahllosen Ritualen und Formen, die unsere Kultur inszeniert und in Gestalt der Massenmedien über Kino, Mode, Fernsehen und Werbung transportiert werden, was unsere alltäglichen Sehgewohnheiten in hohem Maße prägt. In einen anderen Kontext gestellt, wird die Austauschbarkeit der sorgsam komponierten Bilder deutlich. Das Motiv der inszenierten Schießlust als popkulturelles Phänomen – aufregend und sexy – ist schon in Niki de Saint Phalles berühmten “Schieß-Bildern” mit flüssiger Farbe (1961) ablesbar. “… Ich schoss, weil es mir Spaß machte und mir ein tolles Gefühl gab….Ich schoss um dieses magischen Moments willen.”11 Aus der “Malerei mit der Flinte” machte Lynn Hershman in der interaktiven Arbeit “America’s Finest” (1995) eine kritische Untersuchung des medialen Missbrauchs und der Manipulation von Bildern, indem sie die Eigenschaften der Kamera und des Gewehrs gegenüberstellt – beides mit Optiken ausgestattete Werkzeuge zum Zielen und Schießen. Der Abzug des M16-Sturmgewehrs, einer den Vietnamkrieg prägenden Waffe, fungiert gleichzeitig als Auslöser für eine Aufnahme des “schießenden” Betrachters. Nach Betätigung des Abzuges wird der Betrachter mit der in die Zielscheibe projizierten Selbstaufnahme konfrontiert. Der Perspektivwechsel der Angriffssituation gelangt ins Bewusstsein des Betrachters, während der Hintergrund der Zielscheibe von einer Projektion historischer Kriegsbilder begleitet wird. Bei Dieter Buchharts Installation “No Mercy” (2004) wird der Mitspieler in ähnlicher Weise zugleich zum Schießenden und zum Erschossenen und damit Täter und Opfer. Er hat die freie Wahl zwischen drei Waffen, um in einer geschlossenen Kammer auf sein diffus verzerrtes Spiegelbild zu schießen. Allein auf sich gestellt, kann er nochmals diskret entscheiden und die Hemmschwelle zum Abdrücken zu überwinden. Der direkte physische Zugang des Betrachters zum Kunstwerk spielt in Buchharts dezidiert interaktiven Arbeiten eine besondere Rolle. Entscheidend ist die Wahlfreiheit des Betrachters zwischen Verweigerung und Respektbezeugung, wenn dieser mittels einer authentischen Ästhetik von Schildern und Zeichen überzeugend wirkende Instruktionen erhält. Dem Diktat “Keine Gnade! Betreten Sie den Raum auf eigene Gefahr und schießen Sie” lässt dem Einzelnen kaum Spielraum, dennoch hat er die Möglichkeit sich zu entziehen. Durch den haptischen Kontakt reagiert er auf das Kunstwerk und wird ein Teil von ihm. Den österreichischen Künstler interessiert hier das Verhältnis zwischen gesellschaftlich determinierten Mechanismen und individuellen Verhaltensweisen, in dem er die extreme Aufforderung zum Schießen mit einer Konfrontation des eigenen Spiegelbildes verbindet. Der mitspielende “Betrachter” wird zu seiner eigenen Schießbudenfigur.

Anibal Lopez, bekannt unter dem Codenamen A-1 53167, spielt in provokanten Interventionen mit Realitäten und Regelwerken des bürgerlichen Lebens. In “El Prestamo” inszeniert er in Guatemala City einen bewaffneten Raubüberfall und greift einen uneingeweihten Passanten an. Mit dem gestohlenen Geld sollte eine Ausstellung finanziert und so das Opfer zu einem Kunstförderer und der Zuschauer zum Mittäter gemacht werden. Die Vernissage seiner Ausstellung “Do it right” in der Berliner Galerie Play geriet zu einer Demonstration von unsichtbaren Regeln und Verboten in einer scheinbaren Demokratie, bei der er wie ein Zeremonienmeister die strikten Spielregeln festlegte. Ihre Befolgung wurde durch einen Trupp bewaffneter Wachmänner angemahnt und von zahlreichen Kameras gefilmt: Es durfte weder gesprochen noch etwas berührt, weder Platz genommen noch etwas verzehrt werden. Angesichts der geballten Präsenz professioneller Überwachung durch echte Wachleute und echt wirkender Medienübermacht wurden die irritierten Besucher unfreiwillig zu Spielfiguren des Künstlers.

Wenn in absehbarer Zeit Big Brother “lebenslänglich” startet und den Orwell’schen Alptraum eines überwachten Lebens in einer eigens gebauten Stadt verwirklicht, können wir live und in Farbe nachvollziehen, wie sich Menschen freiwillig und für Geld zu permanenten Spielfiguren machen lassen. Verglichen mit dem laufendem Sendekonzept der temporären Containerbewohner werden die überwiegend arbeitslosen Kandidaten von der Geburt bis zum Tod ihr ganzes Leben in einer vermeintlich abgesicherten Umgebung voyeuristisch zur Schau stellen. Das berechenbare Spiel wird zum Dauerzustand und dieser zum öffentlichen Spektakel. Wie auch immer man dazu stehen mag, Arthur Schnitzler schrieb vor über hundert Jahren: “Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von anderen, nichts von uns. Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.”12

Anmerkungen
1) Siehe: Das Leben als Spiel. Psychologie Heute. 5/2004 und Wolfgang
Einsiedler: Das Spiel der Kinder. Zur Pädagogik und Psychologie des Kinderspiels, Klinkhardt, 1999.
2) Siehe auch: Alain Fleischer: Das Spiel der Regel. In: Fotografie nachder Fotografie, Dresden, 1995, S.182 ff.
3) Claude Levi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt/Main, 1973, S. 45.
4) Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek, 1956. S.9 f.
5) Siehe auch: Pierre Bourdieu. Die Regeln der Kunst. Franfurt/Main, 2001, S. 377.
6) Kubricks umstrittenster Film wurde vor allem in England wegen seiner Ästhetisierung von Gewalt heftig kritisiert. In der “Stanley Kubrick Ausstellung” des Deutschen Filmmuseums und des Deutschen Architekturmuseums, Frankfurt am Main (20.1.-11. 4. 2005 Martin-Gropius-Bau, Berlin) ist u.a. Axel DeLarges Plattenspieler, eine Reproduktion seines Kostüms und das Original seines Gehstocks mit Messer ausgestellt.
7) Siehe: Ingo F. Walther (Hrsg): Kunst des 20.Jahrhunderts, Band 2, Köln, 1998, S. 499.
8) Zit.in: Jörg-Uwe Albig: Carsten Höller. Gewitzter Mechaniker des Glücks, In: Art, 11/1999, S. 50.
9) Christian Jankowski. Mein Leben als Taube, Lokaal 01, Antwerpen, 1996; Direktor Pudel, Kunstverein Hamburg, 1998; Herde, Site Gallery, Sheffield, 2002.
10) In: Performance Ritual Prozess. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München, New York, 1993, S. 84.
11) Zit. nach Justin Hoffmann: Destruktionskunst. Der Mythos der Zerstörung in der Kunst der frühen sechziger Jahre, München, 1995.
12) Arthur Schnitzler. Paracelsus & Other One-Act Plays. Studies in Austrian Literature, Culture and Thoughts, Ariadne, 1995.