vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Gespräche mit Künstlern · von Heinz-Norbert Jocks · S. 164 - 181
Gespräche mit Künstlern , 2016

William Kentridge

DOPPEL-DADA
Betrachtungen des ewig Gestrigen im Jetzt

Ein Gesprach von Heinz-Norbert Jocks

William Kentridge, 1955 in Johannesburg geboren, bildender Künstler, Filmemacher, Performancekünstler, Regisseur und ein so großer wie passionierter Erzähler, gehört zu den renommiertesten zeitgenössischen, interdisziplinär arbeitenden Künstlern. Er, aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammend, wurde früh mit der leidvollen Geschichte seines Landes und seines Kontinents vertraut. Mit dem transatlantischen Sklavenhandel ebenso wie mit den Gräueltaten im Kongo, der Unterwerfung und Plünderung Afrikas durch die europäischen Kolonialmächte. Sein Vater Sydney gehörte zum Team weißer Anwälte, die in den 1950er und 1960er Jahren die schwarzen Widerstandskämpfer um Nelson Mandela verteidigten. William studiert an der University of Witwatersrand in Johannesburg Politik und Afrikanistik, wendete sich zunächst als Schauspieler und Dramaturg dem Theater zu. Den letzten Schliff als bildender Künstler erhielt er beim legendären Bill Ainsley. Dessen Kunststiftung nahm schon während der Apartheid-Ära Bewerber aller Hautfarben auf. Anschließend studierte Kentridge an der Theaterschule Jacques Lecoq in Paris, sein einziger längerer Auslandsaufenthalt.

Das Spektrum seines künstlerischen Schaffens reicht von Zeichnungen über die berühmten Méliès- und Soho-Animationsfilme, die Raum-Installationen wie dem documenta-Projekt The Refusal of Time bis hin zu Großprojektionen wie der mehrere Meter langen Filmarbeit More Sweetly Play the Dance, die Kentridge für die von Peter Weibel kuratierte lichtsicht Projektions-Biennale in Bad Rothenfelde erstellt hat. Wer das Werk von Kentridge in diesem Jahr dort nicht sehen konnte, hat bis zum 8. Januar 2017 die Gelegenheit dazu im Karlsruher ZKM. In Bild und Ton setzt er sich hier, wie in älteren Arbeiten, mit der Post-Apartheid Südafrikas auseinander. Dabei agieren nicht nur die gezeichneten Figuren. Auch echte Musiker, Schauspieler und Tänzer beleben die vorwiegend gezeichnete Szenerie in Form einer Prozession imposanter Figuren. Dabei erinnert der Auftritt der Skelette an mittelalterliche Totentänze und die Prozession an politische Demonstrationen.

Beinah all seine historischen Exkursionen, am Kap beginnend, führen dorthin wieder zurück. Wie eine Matrix legt er die verdrängte oder geleugnete Geschichte über die Gegenwart. In seiner 1997 uraufgeführten Tragikomödie Ubu and the Truth Commission lässt er König Ubu, Alfred Jarrys Despoten, in der Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen der Apartheid auftreten. Dieses Schauspiel handelt von der Vergeblichkeit kollektiver Selbstvergewisserung, wird doch die Gerechtigkeit am Ende auf dem Altar der Wahrheit geopfert. Die Mörder waschen sich durch Geständnisse rein und entkommen ungestraft. Und so leben Opfer und Täter, weiße Herren und schwarze Knechte, so unversöhnt und ungleich wie je zuvor, nebeneinander her. Für Kentridge hat es in diesem Land zwar einen fundamentalen Wandel gegeben. Ihm erscheint es jedoch gelegentlich so, als sei alles unverändert geblieben. „Das neue Südafrika wirkt wie eine Übermalung des alten Südafrika“, so Kentridge.

Seine die Allmacht der Vergangenheit decodierenden Animationsfilme enthüllen gleichzeitig die Technik ihrer Entstehung. Kentridge entwirft mit Kohlestift und Pastellfarben ein von ihm gefilmtes Urbild. Das Original wird ausradiert, überzeichnet, erneut gefilmt und nochmals ausradiert. Er zeichne „Gedächtnisspuren“ nach. So hat er es einmal formuliert und seine Technik als „steinzeitliches Filmemachen“ bezeichnet.

Als Kind war er in die großen Landschaftsmaler vernarrt. In einem von seinem Großvater geschenkten Bildband sah er Gemälde von Constable, Rousseau oder Watteau. Für Kentridge korreliert „die Art und Weise, wie sich die Geschichte in der Landschaft verbirgt, mit der Funktionsweise unserer Erinnerung. Das scheinbar unauslöschlich in unser ­Gedächtnis Eingeschriebene verblasst allmählich und wird trügerisch. Dieser Prozess spiegelt sich in der Landschaft, die die auf ihr geschehenen Ereignisse nicht festhalten kann.“

Heinz-Norbert Jocks: Herr Kentridge, als Südafrikaner, der sich einerseits auf so intensive wie faszinierende Weise mit der Geschichte und Kultur seines Landes beschäftigt und gleichzeitig überall auf der Welt, vor einigen Monaten noch im UCCA in ­Peking und jüngst im Gropius Bau in Berlin, ausstellte, stoßen­ Sie zwangsläufig auf kulturelle Parallelen und Differenzen in Zeiten der Globalisierung. Wie ist es möglich, dass Chinesen von Ihrer Arbeit ebenso begeistert sind wie Deutsche oder Franzosen?

William Kentridge: Es gibt die unterschiedlichsten, von der jeweiligen Kultur mitgeprägten Formen, wie die Welt repräsentiert und von uns Menschen verstanden wird. Gleichwohl sind wir in der Lage, uns fremde Kulturkontexte bis zu einem gewissen Grade emphatisch zu verstehen. Was die Globalisierung betrifft, so stellt diese ein Paradoxon dar. Wenn sich beispielsweise die Besucher meiner Ausstellungen die Animationen anschauen, sind ihnen nicht unbedingt alle Bezüge zu Johannesburg geläufig, was zur Folge hat, dass sie sich davon eine eigene Vorstellung machen. Ich selbst habe viele Länder nie besucht, dafür aber Bücher darüber und dort handelnde Erzählungen gelesen. Auf diese Weise entwerfe nicht nur ich mir, sondern jeder Leser sich ein Bild von den Ländern und deren Kulturen, obwohl er sie nie bereist hat. Wir kreieren uns also ein imaginäres Verständnis, das aber auf einem Missverständnis beruht, insofern es sich dabei um eine Übersetzung handelt. Diese macht einen wesentlichen Bestandteil dessen aus, wie wir in unserer Welt operieren und diese wahrnehmen. Da jeder sich seine eigene Vorstellungswelt schafft, bin ich mir sicher, dass die ­Gedanken, die sich Chinesen zu meiner Arbeit über die Kulturrevolution sowie zur Peking Oper machen, andere sind als die meinigen. Doch ich hoffe, dass es gleichwohl eine Gemeinsamkeit gibt, die eine Verbindung zwischen den Menschen ermöglicht. Gibt es doch die Fähigkeit des annähernden Verstehens dessen, was anders ist, und dies existiert unabhängig von den Traditionen und der Kultur, in die man ­geboren wurde. Das hat nichts mit Bildung zu tun.

Um mehr zu akzentuieren, was Sie sagen, die etwas plakative Frage: Glauben Sie an kulturelle Unterschiede? Und wenn ja, wie wichtig ist es, an deren Weiterbestehen festzuhalten?

Die Globalisierung hat eine Angleichung nicht nur in Bezug auf den Umgang mit Essen sowie darauf zur Folge, wie nicht nur Nahrungsmittel produziert und angeboten werden. In dem Zusammenhang denke ich nicht nur an die weltweit agierenden, großen Ketten wie Starbucks und McDonald’s, die diese Vereinheitlichung am markantesten verdeutlichen. Es gibt immer seltener und immer weniger Überraschungen oder Dinge, die sich unterscheiden. In jeder großen Stadt überall auf der Welt stößt man auf Vertrautes. Da hat sich eine so bedauerliche wie schädliche Gewohnheit durchgesetzt. Gleichzeitig erleben wir beispielsweise, dass fremde Literatur übersetzt wird, damit wir uns dieser annähern können. Paradox finde ich, dass einerseits der Zugang zu fremdem Gedankengut und Verständnisweisen erleichtert wird, während andererseits die Gefahr einer Monopolisierung nicht nur von Objekten, sondern auch des Denkens droht.

Die Sensibilisierung durch das Traumatische

Apropos Denken, Sie sind Sohn einer jüdischen Familie.

Ja, und bestimmt lassen sich bei mir Elemente jüdischen Denkens entdecken. Ich selbst bin aber außerstande, Ihnen zu sagen, wo sich dies in meiner Kunst bemerkbar macht, wie es sich niederschlägt, welchen Einfluss es hat und welche Aspekte dies im Einzelnen sind. Gewiss gibt es neben Verwandtschaften, Ähnlichkeiten, Parallelen auch Unterschiede zwischen jüdischen und nichtjüdischem Denken. Ich selbst bin damit aber viel zu eng verwoben, um das auseinanderzudividieren. Als weiteres Beispiel dazu fällt mir die Struktur familiärer Beziehungen unterschiedlicher Kulturen ein, die der Väter zu den Söhnen oder die der Mütter zu ihren Töchtern. Von außen, also aus einer gewissen Distanz heraus lassen sich sicherlich deren Ähnlichkeiten und Andersartigkeiten klarer wahrnehmen. Mir ist meine Art des Denkens so selbstverständlich wie evident. Wie sollte es auch anders sein? Hin und wieder werden Fragen hinsichtlich der historischen Erinnerung und des historischen Traumas an mich herangetragen. Ich selbst betrachte dies mehr universell und weniger­ gerichtet an eine Person mit jüdischem Hintergrund. Doch schließe ich nicht aus, oder anders ausgedrückt: Es kann durchaus so sein, dass sich Menschen jüdischer Abstammung in das Traumatische mehr einfühlen können als andere, weil sie womöglich dafür aufgrund der eigenen Geschichte stärker sensibilisiert sind. Aber ich selbst gehe letztlich davon aus, dass wir es mit so grundlegenden wie allgemeinen Denkkategorien zu tun haben, über die jeder verfügt. An der Stelle unseres Gespräches möchte ich ergänzen, dass ich in Südafrika während der Schulzeit keinem Antisemitismus ausgesetzt war und ich auch nicht erleben musste, dass andere damit konfrontiert waren. Natürlich waren die drei oder vier jüdischen Jungen in der Klasse anders als die Mehrheit. Die in der Schule gesprochenen Gebete waren nicht die unsrigen. Etwas außerhalb und nicht mitten im Zentrum zu stehen, ermöglicht es einem, äußere Strömungen zu erkennen, und das ist stets von Vorteil für einen Kunstschaffenden. Die Arbeit und das Leben an der Peripherie in Johannesburg hatten von daher gewisse Vorzüge.

Zwischen Zeichnen und Filmen

Wenn Sie von der Peripherie, also von der Übergangszone zwischen Stadt und Land sprechen, so kommt mir dazu assoziativ die Frage des Übergangs in den Sinn. Sie bedienen sich der Zeichnung, eines alten Mediums, das Sie mithilfe eines neuen, nämlich des Films verlebendigen. Indem Sie das tun, überschreiten­ Sie eine Schwelle. Was passiert an diesem Übergang, wo die Zeichnung zum bewegten Bild wird?

Hinsichtlich Ihrer Frage muss ich anmerken, dass ich über den Arbeitsprozess und darüber, was es bedeutet, eine Zeichnung oder einen Film zu machen, nie sonderlich nachgedacht habe. Da bin ich von einer gewissen Einfältigkeit oder gar Blindheit. Der Film ist das Ergebnis meines Spiels mit der Kamera und den Zeichnungen, und ich habe lange gebraucht, um darin die Arbeit nur eines Künstlers zu sehen. Zunächst ging ich davon aus, ich sei eine zweigeteilte Persönlichkeit. Die eine zeichnet und die andere macht Animationsfilme, wobei diese der Kategorie „Film“ zugeschlagen wurden. Als irgendwer entschied, meine Filme zum ersten Mal in einer Ausstellung zu präsentieren, schimpfte ich, weil ich dachte, man könnte keine Filme in einer Galerie zeigen. Diese gehörten ins Kino. Zu dem Zeitpunkt machte ich mir keine Gedanken zu dieser Art des Übergangs. Dazu kam es erst nach der Lektüre des Textes von Rosalinde Crowses zur Entwicklung neuer Medien. Die dadurch bewirkte Öffnung des Verständnisses erlaubte es den Dingen, einfach zu geschehen. Erst hinterher überlegte ich, was es genau war und was für interessante Dinge sich dabei ereigneten. Von dem Moment an traf ich die Entscheidung, keine Skripts, keine Storyboards und keine zu weitreichenden Notizen mehr zu machen oder überhaupt derart vorzugreifen, dass ich die Bedeutung eines Projekts vorab fixierte. Ein starker Impuls als Ausgangspunkt genügte mir. Mein Vorgehen folgt ­keinem Plan.

Gelegentlich nehmen Sie sich selbst nicht so ernst und witzeln über sich, und das mehr und mehr. Als Zuschauer gewinnt man den Eindruck von einer Reise ins Zentrum eines inneren Bewusstseins. Gleichzeitig fällt der Blick auf die Außenwelt.

Bei dem, was Sie sagen, denke ich an meine Arbeit zur Oper Nose von Dmitri Shostakovich nach einer Erzählung von Nikolai Gogol. Sie erzählt die absurde Geschichte von Kowaljow, der beim Aufwachen den Verlust seiner Nase bemerkt. Auf dem Weg zum Polizeipräfekten, bei dem er das Verschwinden seiner Nase anzeigen will, begegnet er ihr in der Uniform des Staatsrates. Als er sie anspricht, wird er von ihr abgewiesen. Ohne mir dessen bewusst zu sein, beschäftige ich mich mit dieser Frage der Abtrennung bereits seit vielen Jahren in verschiedenen Projekten. Über die Beziehung von Innen und Außen und die Frage des Übergangs muss ich erst nachdenken, es ist keine Thematik und auch kein Begriff, dessen ich mich normalerweise bediene.

Vor zehn Jahren bei unserem ersten Treffen in Frankfurt sprachen wir viel über Erinnerung und Zeit. Haben Sie sich eigentlich in dem Zusammenhang mit Walter Benjamin befasst, der das Ende des Erzählens und damit den Verlust der Erfahrung beklagt.

Nein, ich habe nicht alles von Benjamin gelesen, nur einige seiner bekannten Essays sowie Teile seines berühmten Passagen-Werks, sein Arkaden-Projekt. Seine Schriften sind einfach zu komplex und entsprechend schwerverständlich. Bei deren Lektüre empfinde ich eine große Sympathie für seine Denkweise, aber ich bin kein Benjamin-Kenner. Am vertrautesten sind mir seine geschichtstheoretischen Thesen und seine darin enthaltende Lehre vom ­Engel der Geschichte, der, von einem starken Sturm vorangetrieben, auf einen zunehmenden Berg nicht endender Katastrophen zurückschaut. Das sei es, so Benjamin, was wir Geschichte nenne. Solche Sätze, die auf die Gewalt der Bewegung und der visuellen Betrachtung, die die Geschichte konstituieren, verweisen, sind mir in Erinnerung. Das ist eine wunderbare Beschreibung, aber ich habe nie nachvollziehen können, wie es ihm möglich war, dies alles aus der kleinen Zeichnung von Paul Klee herauszulesen. Aber derartige fantastischen Bilder wie das vom Engel der Geschichte prägen sich tief ins Gedächtnis ein.

Wie interpretieren Sie Benjamins Geschichtsverständnis? Wie übersetzen Sie seine Lehre vom Engel der Geschichte für sich in Kunst?

Ich denke, es gibt eine Art Inkarnation des Bildes zum Beispiel in dem Film History of a Main Complaint mit den Augen im Spiegel. Da scheint es so, als ob alles, worauf wir zurückblicken, uns weiter vorantreibt. Als ich daran arbeitete, dachte ich noch nicht an Benjamin, und mein Bild von der Geschichte deckt sich auch nicht ganz mit seinem. Denn wir werden von der Geschichte einerseits vorangetrieben und andererseits auch immer wieder hinuntergedrückt, und die Vergangenheit, die, metaphorisch gesprochen, über unsere Köpfe hinwegsteigt, wendet sich uns plötzlich wieder zu, so dass wir ihr wiederbegegnen. So sehe ich unsere Verbindung zur Geschichte und somit auch die Kulturrevolution unter Mao Zedong. Nicht anders verhält es sich mit den Fragen, die im 19. Jahrhundert beantwortet zu sein schienen, sie warten immer noch am Rande unseres Weges. Ja, oft besteht eine gewisse Blindheit gegenüber der vergangenen Geschichte, weshalb wir ihr erneut verfallen oder in sie zurückfallen. Was mir an Benjamins Bildern so gefällt, ist deren Mobilität der Geschichte, der einsetzende Sturm.

Über die Vergeblichkeit

Ein wichtiger Begriff bei Benjamin ist „das utopische Surplus“, womit gemeint ist, dass in der Vergangenheit etwas enthalten ist, das nicht realisiert werden konnte. Insofern in der Vergangenheit etwas Utopisches steckt, bleibt eine positive Verbindung zu der hinter uns liegenden, der verlorenen Zeit bestehen.

Die Arbeiten oder Projekte, die ich für China und für die Istanbul Biennale 2015 realisiert habe, also das Stück Sentimental Machine über Trotzki und das Werk zu der Oper The Nose haben mit dem Wissen um das Scheitern zu tun. Vor diesem Hintergrund ist es unmöglich, denselben Optimismus zu empfinden wie die Menschen um 1915 und 1917 oder um 1948 in China. Aber wenn wir es im Ganzen betrachten, so tauchen da eine Lücke und dieser Widerspruch auf. Trotz des Wissens um das Scheitern sind wir außerstande, damit aufzuhören, die Geschichten so zu erzählen, als wäre alles doch möglich. Und das Stück Refusal of Time („Verweigerung der Zeit“), das überhaupt nicht politisch ist, ist im Grunde, – und das stelle ich jetzt fest-, eine Fortsetzung dieser vergeblichen Revolte gegen die Endlichkeit, die im Laufe des Stückes in einem physischen schwarzen Loch mündet, und dieses entspricht der Schwerkraft am Ende des menschlichen Lebens. Obwohl wir von vornherein wissen, dass wir alle ohne Ausnahme sterblich sind und dass unser Ende kein Sieg sein wird, da keiner von uns dem schwarzen Loch entkommt, lassen wir uns mit Haut und Haaren auf dieses utopische Lebensprojekt ein. Wir können gar nicht anders, als uns an dem Glauben zu klammern, dass wir nicht derart enden werden. Würden wir nicht so tun, als ob, gäbe es kein Streben nach einem Ziel, nach einem Projekt, sei es nun die Schriftstellerei, die Kunst oder irgendeine andere Aktivität. Diese Einsicht in die Niederlage, in das letztendliche Scheitern negiert weder irgendeine Aktivität, noch raubt es uns den Glauben an die Utopie. Auf dem Spielfeld dieser Frage bewegen wir uns. Bei allem, was ich tue oder ausdrücke, geht es mir um keine politischen Lösungen.

Wenn Sie die apriorische Vergeblichkeit so klar vor Augen haben, was lässt Sie gleichwohl hoffen?

Wohl in erster Linie die physische Arbeit im Atelier. Das dabei empfundene Wohlgefühl korreliert mit der Empfindung von Lebendigkeit. Hinzu kommt, dass ich im Atelier von einem kleinen Kreis von Mitarbeitern umgeben bin, die in die Arbeit involviert sind. Es gibt Menschen wie mich, die sich auf diese Weise ein Modell, eine angenehme Gesellschaft im Miniaturformat schaffen, wodurch sie eine andere Möglichkeit des Lebens und Schaffens entwerfen und vor Augen führen. Das ändert aber nichts daran, dass es diese unausweichliche Grenze gibt, von der ich vorhin sprach. Die Aktivität, die Energie und der gute Wille im Atelier, die da zusammenkommen, bedingen ein vitalisierendes Wohlgefühl, das seine Rechtfertigung in sich selbst hat.

Und wenn Sie hinausschauen?

Befinde ich mich in Südafrika. Dort gibt es außergewöhnliche Aktivitäten, einen Glauben in das Wohlwollen aller, die an gesellschaftlichen Projekten partizipieren, und gleichzeitig eine unglaubliche Unterdrückung innerhalb der Gesellschaft und so schreckliche Dinge wie Kriminalität und Korruption. Beide Stränge, der optimistische ebenso wie der pessimistische, existieren nebeneinanderher. Dabei geht es mir als Künstler nicht um eine Beurteilung, ob der eine richtig und der andere falsch ist. Beides ist einfach existent.

Zur Kulturrevolution

Ich würde gerne mehr über Ihre Arbeit Notes Towards a Model Opera zur Kulturrevolution erfahren. Wie haben Sie sich dem Thema angenähert? Haben Sie Bücher gelesen und China bereist?

Ja, aber ich habe das Land immer nur sehr kurz besucht, und das insgesamt dreimal. Erstmals vor langer Zeit, das zweite und dritte Mal zur Vorbereitung der Ausstellung im UCCA (Ullens Center, Beijing). Für meine Arbeit las ich ein paar grundsätzliche Bücher von Menschen, die die Kulturrevolution erlebt und durchlitten haben. Der Arbeit ging keine Analyse voraus. Sie begann damit, dass ich Geschichten hörte, Fragmente las. Manche lösten in mir etwas aus, weshalb ich das Gefühl hatte, es könnte daraus etwas entstehen. Eine Geschichte betraf die 1958 von Mao Zedong im Rahmen des sogenannten Großen Sprungs nach vorn initiierte Massenkampagne, die als Ausrottung der vier Plagen bezeichnet wurde. Sie sollte die landwirtschaftliche Produktivität steigern und richtete sich gegen Fliegen, Mücken, Ratten, ­Vögel und Sperlinge. In China trägt die Kampagne daher auch die Bezeichnung Große Spatzenkampagne oder Kampagne zum Töten der Spatzen. Die ganze Bevölkerung, einschließlich die Kinder, war dabei mit nichts Anderen beschäftigt, als mit Gongs, Töpfen, Pfannen und allem möglichen anderen zum Krachmachen geeignetem Zeug die Spatzen aufzuscheuchen. Es wurde so laut gescheppert, dass die Vögel, weil sie sich nirgends niederlassen konnten, schließlich tot vom Himmel fielen. Diese Geschichte von geschlagenen Töpfen und Pfannen erinnerte mich an zeitgenössische politische Protestbewegungen. Und aufgrund des Bildes der bis zur Erschöpfung fliegenden Vögel konnte ich mir vorstellen, dieses in einen Animations-Loop von Vögeln zu verwandeln, die ohne jede Pause weiter und weiter fliegen. Für meine Vorgehensweise war es nicht erforderlich, mehr über die Geschichte oder über das von Historikern Erforschte zu wissen.

Was brachte Sie zu der Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution?

Wie Sie wissen, studierte ich Politik, und in einer Buchhandlung fand ich ein altes Buch von 1971 mit dem Titel Army and state in China. Ich las auch das Buch des italienischen Erzählers Alberto Moravia über seine Reise durch das China von heute, in dem er sich mit der Kulturrevolution in China befasst. Sowohl sein Optimismus als auch die völlige Fehleinschätzung der Kulturrevolution belegen seine damalige Blindheit. Es gab also Bilder, die mich zum Nachdenken bewegten und wiederauftauchten, als ich das mir drei Jahre zuvor zugesandte Video von Madame Mao Eight Model Revolutionary Eperas anschaute. Daraufhin las ich mehrere Bücher, darunter auch Gedichte und Kurzgeschichten des chinesischen Schriftstellers Lu Xun, von denen ich dachte, sie könnten ebenso einen Ausgangspunkt bilden wie die Kalligrafie. Letztendlich begann ich das Projekt an jenem Morgen mit der Improvisation von Dada Masilio, als wir Bilder des chinesischen Balletts betrachteten. Mir ging durch den Kopf, was geschehen würde, wenn wir das nicht mit chinesischer Musik, sondern mit den Klängen einer afrikanischen Tanz-Band aus den 1950er Jahren verbinden würden, ohne uns zu fragen, was das bedeutet und inwieweit es dabei hilft, das Ganze zu interpretieren. Wir schlugen diesen Weg ein, ohne vorauszusehen, was dabei herauskommen wird.

Wie entwickelte sich das Projekt dann weiter?

Erst einmal war da die Aufnahme des Tanzes von Dada Masilio, der bereits großartig war. Danach luden wir den Kostümdesigner ein, dem wir den Clip eines chinesischen Films gaben, damit er Ideen zu Kostümen und Farben entwickeln konnte. Die Farben in den chinesischen Tänzen fanden wir so schön, dass wir Lust hatten, damit etwas zu machen. Dieser verrückte, von den Farben getragene Optimismus hatte es uns angetan. Und dann stand noch die Frage im Raum, wie sich aus dem Thema eine Animation entwickeln lässt. Solche Überlegungen halten mich bis frühmorgens um 3 Uhr wach und sind Teil des Denkprozesses. Letztendlich beginnt alles mit Warten, da noch keiner ahnt, wie es weitergeht und wie wir zusammenfinden. Am ersten Tag kooperierten wir mit der ganzen Crew, der Tänzer, Musiker und Schlagzeuger angehörten, und irgendwann kamen alle zu einer Leseperformance zusammen. Dabei spielte die Improvisation eine entscheidende Rolle, und ich begann, über Ideen und Bilder nachzudenken. Aus den vielen verschiedenen Versionen der Musiker formte sich ein Soundtrack für das Stück. Immer dann, wenn sich mit der Zeit genug Material angesammelt hat, um mit der Gestaltung zu beginnen, stellt sich die Frage, wie sich alles zusammenfügen lässt. Bei dieser Vorgehensweise ergeben sich viele provisorische Ideen, Linien, Grundzüge eines Planes, die zugunsten neuer Ideen wieder aufgegeben werden. Langsam komplettiert es sich. Lücken werden gefüllt, Dinge miteinander verbunden oder neu gefilmt. Die zentrale Arbeit der Editoren besteht darin, dem Rohmaterial einen Sinn zu geben.

Plädoyer für mehr DADA

Könnten Sie auf den Inhalt von Notes Towards a Model Opera noch näher eingehen?

Die Installation besteht aus drei Leinwänden an drei Wänden, und das Ganze setzt sich aus vielen Episoden zusammen, darunter eine mit der Ballerina und eine weitere mit dem Backstage-Tänzer, der die andere Seite der Kulturrevolution verkörpert, mit Menschen, die in den sogenannten Kampfsitzungen Schilder mit ihren begangenen Vergehen um ihren Hals tragen, die zum Teil geschlagen wurden oder mit gesenktem Kopf dastanden. Dies nannte man Selbstkritik und stellt den beschämenden Teil der Kulturrevolution dar. Alles in allem habe ich nicht nur Bilder aus der Zeit der Kulturrevolution, darunter sowohl heroische als auch Bilder von der großen Hungersnot im Jahr 1958, sondern auch Bilder aus dem Afrika der 1960er Jahre benutzt, ebenso vom Mai 68 sowie aus dem Jahr 1871 in Paris. Diese stammen aus Notiz- und anderen Büchern. Das Ganze ist eine Art Sturm der Geschichte, von der verschiedene Seiten aufgeschlagen werden.

Das klingt ziemlich Dada.

Das ist auch Dada, sogar Doppel-Dada. Denn es hat sowohl mit der Dada-Bewegung von 1916 als auch mit der Energie des Choreographen und Tänzers Dada Masilio zu tun. Die Offenheit, mit der die Welt auseinandergepflückt und wiederzusammengesetzt wird, erinnert an die Performances und Aktionen der Dadaisten im Jahre 1916 in Zürich. Ich finde, heutige Künstler sollten sich ihnen verpflichtet fühlen.

Was am Dadaismus ist Ihnen wichtig?

Das Absurde. Denn auch meine Werke lassen sich nicht rational analysieren oder erklären, und wenn man es gleichwohl versucht, macht es rational keinen Sinn mehr. Diese Art der Collage von Nonsens ist mir wichtig. Dinge, die nicht zusammengehören, gleichwohl miteinander zu verbinden, das bildet den Höhepunkt in der Epoche des Dadaismus kurz vor Beginn der surrealistischen Periode, wo alles etwas Manieriertes bekam. Bezüglich des Nonsens und der Proklamation von Null-Sinn ergebenden Wörtern dachte man auch über die Sprache an und für sich nach.

Der absurde Blick

Im Grunde spielen Sie mit dem Absurden.

So ist es.

Auch Albert Camus sowie andere französische Schriftsteller zogen ihre Lehren aus dem Absurden.

Ja, und da waren mir Ionesco mit seinen Theaterstücken wie Die Stühle, Das Nashorn oder Die kahlköpfige Sängerin sowie Samuel Beckett, der 1989 in Paris gestorbene Meister des Absurden aus Irland, dessen Stücke viel minimalistischer sind, wichtiger als Camus. Wenn ich mich auf die beiden berufe, so heißt das nicht, dass es mich drängen würde, beispielsweise ein Stück von Beckett zu spielen. Aber viele dieser Schriftsteller finde ich großartig. Und derjenige, dem ich mich am nächsten fühle, ist Wladimir Majakowski mit seinen Gedichten. Man kann sagen, dass ich über das Theater die absurden Schriftsteller für mich entdeckt habe. Über ein Jahr besuchte ich ja die Theaterschauspielschule École Jacques Lecoq in Paris und arbeitete auch als Schauspieler und Theaterregisseur. An der Theaterschule wurde mir klar, dass ich mein Dasein nicht als Schauspieler fristen wollte. Doch die Ausbildung, die ich dort genoss, spiegelt sich sowohl in meiner Arbeit mit Sängern und Performern als auch darin wider, wie ich im Atelier arbeite.

Wie sieht es dort aus?

Manchmal ist das Atelier mehr wie eine große Bühne, auf der ich gemeinsam mit Schauspielern, Sängern oder Musikern arbeite. Es ist, als würde man gerade schauspielern. Ich führe beispielsweise vor, wie ein bestimmter Gang auf der Bühne aussehen soll, oder gebe einen Impuls vor, und jeder greift diesen auf verschiedene Weisen auf. Das filmen wir, und so häuft sich das möglicherweise verwendbare Filmmaterial. Zur gleichen Zeit fertigen wir Requisiten an, Objekte zum Tragen, während die Editoren das Material sichten, um zu entscheiden, wie es sich zusammenfügen lässt. Alles in allem ein unglaublicher Arbeitsprozess. Über dem Atelier, in einem anderen Arbeitstraum, stehen Nähmaschinen herum. Wenn ich in meinen Filmen selbst auftrete, beleuchte und filme ich normalerweise alles selbst. Ich bewege mich vor der Kamera, mache meine Performance, sehe sie mir an und filme wieder.

Wobei helfen Ihnen die Einsichten ins Absurde?

Sie geben mir einen Einblick ins Absurde der Außenwelt und machen mir diese bewusster. Dazu gehört sowohl, was die Leute tun, als auch, was sie sagen. All die merkwürdigen Aktivitäten. Das Absurde ist sozusagen der Schlüssel, um zu begreifen, wie die Welt strukturiert ist.

Biografie William Kentridge

Geboren 1955 in Johannesburg. Studierte 1976 Politikwissenschaften und African Studies an der University of the Witwatersrand, von 1976 bis 1978 an der Johannesburg Art Foundation. In den 1980ern Mime und Theater an der École Jacques Lecoq in Paris. 2003 erhielt er den Kaisserring, Goslar. Seit 2011 Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters und 2012 Mitglied der American Philosophical Society, Philadelphia. Lebt und arbeitet in Johannesburg.

Einzelausstellungen (Auswahl):

2016 Marian Goodman Gallery, New York; Martin Gropius Bau, Berlin. 2015 Museum Haus Konstruktiv Zürich; Galerie Kewenig, Berlin; IIziko Museum, Kapstadt; Museo Universitario de Arte Contemporaneo, Mexico City; Ullens Center, Beijing. 2014 Metropolitan Museum of Art, New York City. 2013 Museum of Contemporary Art Chicago, Chicago; Tate Modern, London. 2009 Museum of Modern Art Kyoto (MoMAK). 2007 Moderna Museet, Stockholm; Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart, Berlin; Philadelphia Museum of Art, Philadelphia. 2006 Museum of Modern Art, New York. 2005 Musée d’Art Contemporain de Montreal, Montreal. 2004 Metropolitan Museum of Art, New York. 2001 New Museum of Contemporary Art; Contemporary Art Museum, Houston. 2000 Museum of Modern Art, New York. 1996 10th Sydney Biennale, Sydney; Haus der Kulturen der Welt, Berlin. 1993 Ruth Bloom Gallery, Los Angeles. 1988 Cassirer Fine Art, Johannesburg, South Africa. 1979 The Market Gallery, Johannesburg.

Gruppenausstellungen (Auswahl):

2015 lichtsicht 5, Biennial, Bad Rothenfelde; Kyoto Inter­national Festival of Contemporary Culture, Kyoto; Museum of Contemporary Art of Crete; Biennale Venedig. 2014 Museum Africa, Johannesburg; Goodman Gallery, Kapstadt; Palais des Beaux Arts, Brüssel; Nam June Paik Art Center, Yongin, Südkorea; Gwangju Biennial; Museum on the Seam, Jerusalem, Israel. 2013 La Maison Rouge, Paris; Museo del Palacio de Bellas Artes, Mexiko. 2012 dOCUMENTA (13), Kassel; International Centre of Photography, New York; ZKM, Karls­ruhe. 2011 Guggenheim Museum Bilbao. 2010 The British Museum, London; Goteborg Biennale; Goteborg; Moscow Biennale. 2008 Hamburger Bahnhof, Berlin; Moderna Museet, Stockholm. 2006 Mori Art Museum, Tokyo. 2005 51.Biennale­Venedig. 2004 Deste Foundation; Centre Georges Pompidou, Paris. 2003 Palais des Beaux-Arts, Brüssel. 2002 Documenta XI, Kassel; Haus der Kunst, München. 2001 P.S. 1, New York. 2000 3. Kwangju Biennale Korea; New Shanghai Art Museum, Shanghai; Kunstsammlung NRW, Düsseldorf; 7. Havana ­Biennale, Havana. 1999 48. Biennale Venedig; VI Istanbul Biennale. 1998 Museum of Contemporary Art Chicago, Chicago. 1997 Sexta Bienal de la Habana, Havanna; Documenta X, Kassel; ARC Musée d’Art Moderne de la Ville Paris. 1996 10th Sydney Biennial, Sydney. 1993 45. Biennale Venedig. 1985 South African National Gallery, Kapstadt. 1981 South African Association of Arts, Kapstadt.

von Heinz-Norbert Jocks

Weitere Artikel dieses/r Autors*in