Michael Hübl
Wie putziger Hohn
Das Spiel der Kunst mit Grenzüberschreitungen trifft auf neue Grenzen
Grenzüberschreitung war einmal ein Zauberwort progressiver Kunst. Die Avantgarde sah sich aufgerufen, die engen Konventionen des Akademismus aufzubrechen, es galt, in der Malerei durch entgrenztes Allover, mit Drippings oder durch überwältigende Monochromie den Rahmen zu sprengen, der die Bilder über Jahrhunderte hinweg gefangen gehalten hatte, und in der Bildhauerei hieß die Devise: runter von den Sockeln, von den tatsächlichen wie von den ideologischen. Da wie dort sollten die Mauern zum realen Leben diesseits der Kunstwelt geschleift werden – eine Entwicklung, die mit Fluxus schon deshalb einen Höhepunkt erreichte, weil sich die interdisziplinär gestimmten, also die Grenzen zwischen den Kunstgattungen überschreitenden Akteure und Aktivisten nicht darauf beschränkten, bürgerliche Kunstproduktionsgeräte wie Konzertflügel zu zertrümmern, sondern dem Humor als Erkenntnisinstrument zu seinem Recht verhalfen.
Spätestens seitdem die Zahl der Menschen, die sich in Europa Zuflucht erhoffen, dramatisch zugenommen hat, ist nun der Begriff „Grenzüberschreitung“ mit Konnotationen behaftet, die es erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen, ihn unbefangen zu gebrauchen. In der Kunst ist Grenzüberschreitung trotz aller Risiken und Anfeindungen ein (wenn auch mitunter brandgefährliches1) Spiel. Für die Frauen, Männer und Kinder, die vor Terror, Krieg, Hungersnot fliehen oder einfach nur eine Chance für ein menschenwürdiges Dasein suchen, bedeutet Grenzüberschreitung oft eine Frage von Leben oder Tod: Um sich diesen existenziellen Umstand bewusst zu machen genügt es, an den Siebeneinhalbtonner mit 71 Toten im Laderaum2 zu denken, der Ende August 2015 in einer Pannenbucht der österreichischen Autobahn A 4 entdeckt wurde, als…