Moderne, reloaded: Interviews mit Kuratoren, Kunsthistorikern, Kunstkritikern, Museumsdirektoren
Wendy M. K. Shaw
Kunsthistorikerin
Verspätet? Lokal? Bergsonianisch? Zur Moderne in der Türkei
Wendy M. K. Shaw gehört zu den Expertinnen einer jüngeren Generation von Kunsthistorikerinnen, die die Schnittstellen und Debatten zwischen Moderne und Postkolonialismus, Philosophie, Religion und Kunst in der islamischen Welt beleuchten. Sie ist Professorin für die Kunstgeschichte Islamischer Kulturen und lehrt seit 2014 am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität, Berlin. Sie promovierte 1999 an der UCLA in Los Angeles. Der geographische Schwerpunkt ihrer Forschung liegt in den Zonen des ehemaligen spätosmanischen Reichs und der Republik Türkei in Dialog mit anderen Regionen des globalen Südens. Ihr Fazit: So etwas wie eine ‚islamische Kunst‘ gibt es in der Türkei gar nicht.
Sabine Maria Schmidt: Mit großer Faszination erinnere ich mich an einen Ihrer Vorträge über die ungewöhnlichen chronologischen Abläufe in der Geschichte der modernen Kunst in der Türkei. Die -Ismen laufen entgegen üblicher Leitfäden ziemlich durcheinander, der Kubismus wird etwa zwischen 1933 – 1953 datiert. Könnten Sie das kurz skizzieren?
Wendy Shaw: Darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben. Ja, erst kam der Realismus, dann der Expressionismus, dann der Impressionismus, zuletzt der Kubismus. Doch das ist nur oberflächlich. Zunächst basierte die Geschichte der türkischen Moderne auf einer eher biographisch angelegten Historiographie herausragender Künstlerpersönlichkeiten wie Osman Hamdi, İbrahim Çallı oder Bedri Rahmi Eyüboğlu. Dann wurden diese Narrative in einen größeren Zusammenhang gesetzt, der mit der Modernisierung des Staates verknüpft war. So wie die Frau ohne Schleier,…