Was wir sehen blickt uns an
“Was wir sehen blickt uns an” heißt Didi-Hubermans Ausgangsthese, wobei der metaphorische Charakter der Aussage in der Doppelbedeutung des originalen “ce qui nous regarde” liegt, das sowohl “anblicken” oder auch “angehen” meint. Wenn wir etwas wirklich sehen (und nicht übersehen oder verdrängen), das heißt, wenn wir von etwas angeblickt werden, passiert eine Beunruhigung. Der Sehende oder Angeblickte begegnet dem, was ihn angeht, mit einer Mischung von Faszination und Abwehr, was schon die dialektische Grunddisposition von Didi-Hubermans Annahme über die Erfahrung des Blicks andeutet, die er in seinem Buch zu “explizieren” unternimmt. Der 51-jährige Kunsthistoriker und Philosoph von der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales nennt seine elaborierten aber dennoch gut lesbaren Ausführungen zu den Bedingungen des Sehens von Kunstwerken selbst sowohl eine “Fabel des Blicks” als auch eine “Metapsychologie des Bildes”. Etwas Scharfsinnigeres und Spannenderes zum Thema ‘Bild’ hat es seit langem nicht mehr gegeben.
Der religiöse wie kunsthistorische Topos des ‘leeren Grabs’ und minimalistische Skulptur liefern Didi-Huberman die beiden Protobeispiele für die Spaltung, mit der dem Skandal des Sichtbaren begegnet wird. Denn das Gesehene, ist immer schon Spur von etwas Abwesenden. Sichtbares und Unsichtbares sind in Wahrheit aufeinander bezogen, in einer Dialektik der “Visualität”. Doch davon wollen die Alternativen von Glauben und die Tautologie nichts wisse, die das Sehen spalten. Der Gläubige sieht nur etwas von einer transzendente Gegenwart (obwohl und gerade weil das Grab doch leer ist), der Mensch der Tautologie ‘sieht nur das, was er sieht’, so die Selbstdefinition der amerikanischen…