EDITORIAL
Was ist ein Archiv
VON PAOLO BIANCHI
Michel Onfray, französischer Philosoph, welcher der Auffassung ist, daß linke Ideen hedonistisch sind, notiert in seinem Buch über “Die Formen der Zeit” (dt. 1999): “In einer Welt, die sich ganz und gar den Wonnen des Chronometers und der Industrie ergibt, ist der Garten ein Reich des Friedens und der Ausgeglichenheit, ein Reich der Harmonie und der Ruhe. … Stets ist er eine Enklave einer ironischen Zeit, einer Zeit des Friedens, die wie ein Auswuchs in die tragische Zeit miteingeschlossen ist.”
Die Berliner Debatte um das “Denkmal für die ermordeten Juden Europas” verlangt nach einer Schubumkehr: Statt mit Monumentalität und Inszenierung zu klotzen, warum nicht Bescheidenheit und Aufrichtigkeit? Statt einen Stelenwald oder Stelensee aus 2700 Betonpfeilern zu errichten, warum nicht einen Garten anlegen? Hugo von Hofmannsthal hatte bereits 1906 prophezeit, was gerade heute dringend Gehör finden sollte: “Man kann wirklich hoffen, daß mit der Zeit die Büsche von Jasminen und Flieder und Berberitzen, die großen Tuffen von Rhododendron und die Ranken von Klematis und Kletterrosen den größten Teil der unerträglichen Denkmäler zugedeckt haben werden, die wie steingewordene Phrasen einer halbvergangenen Ära in jeder Ecke herumstehen und so sehr beitragen diejenigen, denen sie gesetzt sind, in Vergessenheit zu bringen.”
In einer bedrängend hellsichtigen Selbst- und Welterkenntnis sprach er davon, daß wer heute (1906) einen Garten anlege, habe eine unendlich beziehungsvolle Zeit auszudrücken, eine Zeit, beladen mit Vergangenheit und bebend vom Gefühl der Zukunft, eine Generation, deren Sensibilität unendlich groß und unendlich unsicher und zugleich die Quelle maßloser Schmerzen…