Jorge Semprun:
Was für ein schöner Sonntag!
Aber an diesem Tag im April 1963 erinnerte ich mich nicht an Buchenwald, das war das Problem. Ich erinnerte mich an einen Ort, an dem ich nie gewesen war. Ich hatte, an der Gare de Lyon, den Schneeflockenwirbel gesehen, und ich erinnerte mich an ein Lager, in dem ich nie eingesperrt gewesen war. Eben darum konnte ich diese Erinnerung nicht mit einer Handbewegung, einem Wort wegfegen, wie ich es schon oft getan hatte. Eine Handbewegung, ein Wort hätten genügt, um eine Erinnerung an Buchenwald zu exorzieren, so brutal oder stechend sie auch sein mochte. Eine Handbewegung, ein Wort, um ihr ihren Platz in der Wüste eines unerschöpflichen und verhängnisvoll reichen Gedächtnisses zuzuweisen, von dem man jedoch nur Krümel mit anderen teilen konnte. Ich erinnerte mich aber nicht an Buchenwald. Ich erinnerte mich an ein mir unbekanntes Lager, dessen Namen ich nicht wußte: an ein Straflager, in dem – schon immer schien es mir, vielleicht bis zum Ende aller Zeiten – Iwan Denissowitsch Schuchow eingesperrt ist.
Suhrkamp, Frankfurt/M. 1981.