Judith Elisabeth Weiss
Von Anti bis Meta
Neu-Orientierung der Porträtkunst
Kein menschliches Gesicht ist mir so fremd wie ein Antlitz, das sich, je mehr man es anschaut, desto mehr ringsum verschließt und auf Stufen unbekannter Treppen entflieht.“1 Die Verflüchtigung des Gesichts, die Alberto Giacometti in dieser Aussage andeutet, berührt jene Dialektik von Präsenz und Absenz, die für die Bildniskunst der letzten hundert Jahre grundlegend ist: Je mehr das Gesicht medial in den Vordergrund rückt, beäugt, gemustert und beobachtet wird, umso mehr gerät es in seiner Anschaulichkeit in Bedrängnis. Vor dem Hintergrund einer konstatierten Bildskepsis, die mit der griffigen Formel des „Ausstiegs aus dem Bild“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist, präsentiert sich das Porträt als eine Gattung, die Individualität und Ähnlichkeit nicht länger in der Gesichtsdarstellung verortet.2 Diese folgenreiche Lösung vom Postulat der naturnachahmenden Ähnlichkeit ist grundlegend für das Porträt im 20. Jahrhundert bis hin zur zeitgenössischen Kunst. Die traditionelle gattungsbestimmende Doppelnatur des Bildnisses, nämlich seine memoriale und repräsentative Aufgabe und die Funktion der unmittelbaren Affizierung des Betrachters, weicht einer Konzeptualisierung und Abstrahierung, die das Porträt als eigengesetzliches Kunstwerk entfaltet. Das figurative Porträt wird um das nicht-figurative, das identifizierbare Gesicht um das abstrahierte erweitert – das Antlitz in der Kunst wird zur Irritation.
Gesichtet werden
Dabei findet das Sehen und Gesehenwerden als zentrales Moment der Auseinandersetzung mit dem Gesicht als Motiv selbst Eingang in die künstlerische Produktion. Michel Foucaults Bezeichnung des Menschen als „empirisch-transzendentale Doublette“, die den Menschen im anthropologischen Diskurs als Subjekt und Objekt der Erkenntnis zugleich entwirft, fasst dieses Moment des gleichzeitigen Sichtens…