Vom Wert des Ungehorsams.
Oder: wild, verboten, antiautoritär – Topseller für den Markt und Vitamindrink für die Gesellschaft.
von Larissa Kikol
Das Künstlerleben und die Bohème, besonders wie es sich in der Moderne nach außen hin abzeichnete, entwickelte sich nicht nur zum Vorbild für viele unzufriedene Studenten in den 60er und 70er Jahren, sondern auch für Manager, Coaches, für die Selbstfindung und für kapitalistische Unternehmen. Seit einiger Zeit stehen nun auch der Typus ‚Graffiti-Sprayer‘ oder vielmehr das, wofür seine Arbeiten stehen, im kapitalistischen Interessensgebiet. Doch nicht nur Produkthersteller und Immobilienfirmen, sondern auch Politiker greifen auf die Aura des Graffitis zurück. Der Unterschied zum Künstlerimage ist aber der, dass das Lukrative im Verbotenen liegt.
Wie es dazu kommen konnte, zeigt ein kurzer Rückblick auf die kapitalistische Wandlung der letzten Jahrzehnte. Ab dem Fall der Mauer wirken Begriffe wie Klasse, Ausbeutung und Entfremdung als verbraucht und überholt,1 schreibt der Soziologe Franz Schultheis im Vorwort zu Der neue Geist des Kapitalismus von Luc Boltanski und Ève Chiapello. Damit stimmt er in die Untersuchung ein, die nachvollzieht, wie der Kapitalismus Sozial- und Künstlerkritiken der 60er und 70er Jahre erfolgreich aufgenommen hat, sich als lernfähig bewies und aus den Unruhen gestärkt hervorgegangen ist. Die Forderungen, die ab 1968 lauter wurden, beriefen sich auf mehr Kreativität, Kraft der Phantasie und Emanzipation im Arbeits- und Alltagsleben.2
Der damalige, industrielle Kapitalismus mit seiner industriellen Massenware, seiner autoritären Fabrik- und Unternehmensführung sollte nicht länger geduldet werden. Er sei eine Quelle der Unterdrückung, außerdem fehle es an Authentizität in der Massengesellschaft,3 die für die…