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Titel: Ressource Aufmerksamkeit · von Erhardt Barth · S. 161 - 167
Titel: Ressource Aufmerksamkeit , 1999

INGO RENTSCHLER UND ERHARDT BARTH
Vom Vorteil der tätigen Veränderung bildlicher Vorstellungen

Professor L., ein bekannter Neurologe, erhob sich und verschwand im Badezimmer. Seit Jahren waren ihm die Damen der Familie wegen seines Bartes in den Ohren gelegen und bei diesem Abendessen hatten sie ihn mit ihren Bemerkungen besonders genervt. Er nahm sich den Bart ab und kehrte zu Tisch zurück. Nichts geschah. Der Verlust seines Gesichtsschmuckes blieb unbemerkt.

Die Möglichkeit derartiger Blindheit ist schwerlich mit der Vorstellung zu vereinbaren, Sehen sei eine Art Abfotografieren der gegenständlichen Welt. Sensorische Signale unterliegen beim Vorgang der Wahrnehmung komplexen Auswahlprozessen und das erweist, dass wir etwas tun, wenn wir sehen. Am Wechsel der willkürlich zu richtenden Aufmerksamkeit wird uns das am ehesten bewusst. Die Psychologie verdeutlicht sie mit dem Cocktailparty-Effekt, der darin besteht, dass die Worte einer bestimmten Person in einem vom Stimmengewirr einer Menschenmenge erfüllten Raum deutlich zu vernehmen sind. Bekannte Beispiele für das ausschließliche Sehen von Teilaspekten bieten mehrdeutige Figuren. Die Zeichnung oben wird als Ente oder als Hase gesehen; beide Lesarten zugleich sind nicht möglich.

Mehrdeutige Figuren sagen uns, dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zufolge, aber noch etwas anderes: Wir können ihre Anwesenheit auf weißem Blatt Papier bloß bemerken oder aber sie als etwas sehen. Diese Unterscheidung des Entdeckens und des Erkennens von Bildmustern ist wichtig. Jeder physikalische Empfänger vermag Signale so zu entdecken, wie eine Fotozelle auf das Einschalten einer Lampe reagiert. Die Veränderung des fotoelektrischen Stroms sagt, dass etwas da ist. Um zu wissen, was es ist, muss das Signal erkannt werden….


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