Vom Theater der Erinnerung zur Dekonstruktion der Bilder
Christina von Braun
Kollektives Gedächtnis
und individuelle Erinnerung
Selbst- und Fremdbilder unter der Einwirkung von Photographie und Film
Identität konstituiert sich durch das, was das Gedächtnis dem Individuum oder dem Kollektiv an Kontinuitätsmöglichkeiten – d.h. an Erinnerungen – anbietet. Der Begriff der “Identitätsverunsicherung” wurde zum ersten Mal im Zweiten Weltkrieg benutzt, um die psychischen Störungen von Menschen zu beschreiben, denen das Gefühl abhanden gekommen war, in einer kulturellen Kontinuität zu stehen. Mit dem Übergang von einem Gedächtnis, das den Gesetzen der Schriftkultur unterliegt, zu einem Gedächtnis, das von den Rezeptionsmustern einer visuell bestimmten Kultur bestimmt wird, hat sich nun ein Wandel vollzogen, der nicht die Vermittlung anderer Gedächtnisinhalte, sondern auch die Entstehung neuer Selbst- und Fremdbilder betrifft. Dabei übt das “kollektive Imaginäre” einen prägenden Einfluß auf die individuelle Erinnerung und damit auch auf die individuelle Selbstwahrnehmung aus.
Zunächst zum Begriff des “kollektiven Imaginären”: Der Begriff hat nichts mit den von C.G. Jung entworfenen “Archetypen” zu tun, die sich durch Unveränderbarkeit auszeichnen; noch ist damit das “kollektive Unbewußte” gemeint, in das sich die Spuren einer gemeinsamen kulturellen Tradition oder die Traumata einer Nation eingraben. Der Begriff des “kollektiven Imaginären” ist eher dem verwandt, was Benjamin als “Wunschbilder”1 oder “Bilder” bezeichnet hat, die “einer bestimmten Zeit angehören” und denen eigen ist, “daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen”.2 Das “kollektive Imaginäre”, so würde ich es formulieren, besteht aus den historisch wandelbaren Leitbildern oder Idealentwürfen, die jede Epoche hervorbringt und die dazu beitragen, das Selbstbild und Gesicht…