ROBERT PFALLER
Vom Kanon zum Schibboleth
SIEBEN THESEN ÜBER PARTEILICHKEIT UND ERBARMEN IN DER KULTUR
“Unser Beschluß darüber sei jedenfalls folgender: Abweichend von den öffentlichen und geweihten Gesangsweisen und dem gesamten Reigenaufführen der jungen Leute erhebe ebensowenig jemand seine Stimme, oder im Tanz seine Füße, als er von irgendeiner andern Satzung abweicht. […] In welcher Weise möchte nun jemand das durch Gesetze bestimmen, ohne sich durchaus lächerlich zu machen?” (Platon, Nomoi, 798b-800b)
Der Begriff des Kanons hat seine aktuelle Bedeutung vor allem durch die sogenannten “canon wars” erhalten, die in den letzten Jahrzehnten in der US-amerikanischen Kultur mit besonderer Heftigkeit ausgetragen wurden. Innerhalb dieser Auseinandersetzungen wurden massive Vorstellungen über den Kanon und seine Rolle in der Kultur entwickelt. Diese in den “canon wars” produzierten Vorstellungen stellen allerdings eine theoretische Falle dar. Die europäische Kunstszene, die dazu neigt, die Diskussionen der hegemonialen US-Kultur eilig zu übernehmen, läuft Gefahr, mit ihr in diese Falle zu gehen. Dagegen sollte vielmehr der Konflikt als ganzer der Kritik unterzogen werden: Bei aller scheinbaren Gegensätzlichkeit sind sich die Gegner der “canon wars” nämlich durchaus einig in einer Reihe von Grundannahmen; gerade in ihrem Streit befestigen sie diese Annahmen und erzeugen dadurch eine gefährliche Täuschung. Diese Täuschung betrifft vor allem die Fragen, was ein Kanon ist, was oppositionelle Politik im kulturellen Feld bedeutet und wie die Ziele einer solchen Politik in bezug auf den Kanon aussehen können.