PHILIPPE QUÉAU
Virtuelle Visionen
Am Beginn dieses Jahrhunderts entwickelte Edward Gordon Craig in seinem Buch “Über die Kunst des Theaters” das Projekt, eine “Übermarionette” zu schaffen, um sich der Schauspieler zu entledigen: “Der Körper des Menschen ist von seiner Natur aus nicht geeignet, als Instrument für eine Kunst zu dienen.” Weiter schrieb er, daß der “Schauspieler unfähig dazu ist, seinen Körper vollständig seinem Geist zu unterwerfen”. Er wollte Bilder des Menschen konstruieren, die nicht unter der inhärenten Schwäche der menschlichen Natur litten. Ein seltsamer und paradoxaler Traum. Craig gehörte zu jenen, die denken, daß das Ziel der Kunst nicht darin besteht, das Leben widerzuspiegeln, sondern daß das Leben die Kunst widerspiegeln müsse. Aus dieser Perspektive ist die Übermarionette dem Schauspieler überlegen. Sie kann sich in den Dienst jeder Idee stellen, die sich der Künstler von seiner Kunst macht, ohne von den Beschränkungen des Fleisches eingeschnürt zu sein. Sie steht so hoch über den menschlichen Zufälligkeiten, daß sie gar an der Gottheit zu partizipieren scheint: “Die Marionette ist ein Nachkomme der alten Tempelgötter aus Stein, sie ist das entartete Bild eines Gottes.” Sie ist weder menschlich noch lebendig. Daher ist sie nach dem Trugschluß von Craig mehr als menschlich und mehr als lebendig. “Die Übermarionette steht nicht in Konkurrenz zum Leben, sie geht über es hinaus; sie stellt keinen Körper aus Fleisch und Knochen dar, sondern einen Körper im Zustand der Extase, und je mehr aus ihr ein lebendiger Geist entströmt, desto mehr wird sie die Schönheit des Todes bekleiden.”
Mit den virtuellen…