Jay David Bolter
Virtuelle Realität und die Epistemologie des Körpers
Die konventionelle Meinung ist, daß die elektronische Technologie uns von unserem Körper und von der verkörperten Welt entfernt. In diesem Punkt scheinen die Enthusiasten der neuen Technologien und ihre Kritiker übereinzustimmen. Die Enthusiasten sprechen davon, den Körper zurückzulassen und uns von unserer physischen Verankerung zu befreien, damit wir im Cyberspace spielen und arbeiten können. Die Kritiker fürchten, was die Enthusiasten so treuherzig voraussagen: Beim Betreten der elektronischen Welt werden wir den Kontakt mit der physischen, verkörperten Erfahrung verlieren. Das Verhältnis zwischen den neuen Medien und unserem Verständnis unseres Körpers ist jedoch komplizierter und mehrdeutiger, als die Kritiker und Enthusiasten meist bemerken.
Es stimmt, daß die rein sprachlichen Formen der elektronischen Kommunikation ihre Benutzer entkörpern. Elektronische Post beraubt beispielsweise die Benutzer buchstäblich ihrer Stimme, ebenso wie dies die traditionelle Post und andere Formen der schriftlichen Kommunikation in der Vergangenheit gemacht haben. Die Entkörperung kann auch ein Vorteil sein. Einige Lehrer sagen beispielsweise, daß email und Conferencing in Echtzeit dabei helfen, geschlechtliche und ethnische Unterschiede in ihren Klassen zu negieren. Wenn Studenten einander schreiben, dann können sie nicht sehen, ob ihr Partner männlich oder weiblich, schwarz oder weiß ist. Traditionelle Hierarchien brechen zusammen. Weibliche Studenten oder Angehörige von Minderheiten werden vielleicht ausführlicher und freier schreiben, als sie in der Klasse sprechen würden. Auf der anderen Seite ermöglichen es andere Computeranwendungen (hochwertige Grafiken, digitalisiertes Video und Virtuelle Realität), daß die Benutzer die verkörperte Anwesenheit des anderen sehen, hören und (in beschränkter Form) darauf reagieren können….