Peter Weibel
Vilém Flusser
A Brave New Man For A Cruel Old World
In der Schwierigkeit, Gegenwart zu denken, und in der noch größeren Schwierigkeit, die Zukunft zu denken, damit Richtlinien gefunden und Entscheidungen getroffen werden können, was in der Gegenwart zu geschehen hat, desgleichen in der noch viel tieferen Schwierigkeit, zu erklären, was ohnehin geschieht, und zu begreifen, warum es ohnehin geschieht, bewies Vilém Flusser eine traumwandlerische Sicherheit. Waren es seine enzyklopädischen Kenntnisse, seine etymologischen Fährten und Ableitungen, seine von der Logik des Denkens diktierte Spurensuche, die es ihm ermöglichten, das Gleiten der Signifikanten zu verfolgen?
Ich glaube, es war eine ungewöhnliche Sensibilität und Intuition, geformt an den Erfahrungen dieses Jahrhunderts, dem Holocaust, der atomaren und ökologischen Bedrohung, der totalitären Politik und der Explosion der Medien und Maschinen, die ihn, den Juden im Exil, fast paradigmatisch dazu befähigten, weitsichtig und hellhörig auf alles zu reagieren. Der Keim dieser Erlebnisse, gefiltert im feinen Sieb seiner reflektorischen Sensibilität, fand in seinem Denken ein Echo. Sein Denken war ein Radarsystem, geeicht an den Erfahrungen des wahrscheinlich schrecklichsten Jahrhunderts der Menschheitsgeschichte, das in der Nacht dieses Zeitalters, vollkommen überwältigt von seinen technischen Erfindungen, die Koordinaten des Humanen zu konstruieren wußte, gerade indem er das Ende der Ideologie des Humanismus, in dessen Namen die gewalttätigsten Orgien des Verbrechens geführt worden waren, so radikal wie kaum jemand erkannt hatte. Aus den Ruinen des historischen Humanismus, der gegen die Gewalt des Zeitalters nichts auszurichten vermochte, ja sie vielleicht sogar im Gegenteil erst legitimiert hatte, versuchte er auf unerschrockene Weise,…