Versuch einer visuellen Soziologie der Farbe
Vergleich zwischen den Systemen Sozialstruktur/Farbe in Argentinien und Brasilien
von Hervé Fischer
Es ist schon erstaunlich, daß zwei Disziplinen, die für jede Auseinandersetzung mit Architekturproblemen grundlegend sein müßten, nämlich Architekturpsychologie und Architektursoziologie, bislang ein beklagenswertes Schattendasein führen.
Obwohl seit den 20er Jahren in beträchtlichem Maße soziologisches Denken in die Entwurfs- und Planungspraxis von Architekten und Stadtplanern eingeflossen ist (Hannes Meyer z.B. hat am Bauhaus Soziologie als Lehrfach eingeführt), fehlt bisher eine umfassende soziologische Theorie der Architektur. Vielfältig sind die Fragen, die das Verhältnis von Architektur und Gesellschaft betreffen; das Spektrum reicht – summarisch gesprochen – von einer so allgemeinen Frage, wie sich in der architektonischen Form Gesellschaftliches sedimentiert, bis hin zur Frage, ob bzw. inwieweit Architektur verhaltenswirksam, ja verhaltensprägend ist.
Innerhalb des Radius einer Architektursoziologie ist auch die Frage angesiedelt, der Hervé Fischer in seinem Beitrag nachgeht. Er geht von der Grundannahme einer strukturellen Homologie zwischen dem Sozialsystem und dem visuellen Erscheinungsbild eines Landes aus und postuliert, daß sich diese Entsprechung auch in der architektonischen Formensprache und in der Architekturfarbigkeit manifestiere. Fischer, als Dozent für Soziologie an der Sorbonne und als praktizierender Künstler in einer produktiven Doppelrolle (siehe hierzu den Beitrag ,,Nicht Kunst, nicht Soziologie: das Collectif d’art sociologique”, in: Kunstforum 27/1978), versucht auf den folgenden Seiten, seine Grundthese am Beispiel zweier südamerikanischer Gesellschaften vor allem visuell zu belegen. Der akademischen Soziologie mag es ein Leichtes sein, Fischers “visueller Soziologie” mit methodenkritischen Einwänden zu Leibe zu rücken, und doch träfe eine solche Kritik kaum den Kern der Sache: denn…