Michael Hübl
Unerkannte Moderne
»J. F. Willumsen “Over grænser” – über Grenzen hinaus«
Ordrupgaard Kopenhagen, 2.3. – 4.6.2006 Musée d’Orsay Paris, 27.6. – 17.9.2006
Sähen die allgemeinen Darstellungen der Kunstgeschichte heute anders aus, wenn man die Kunst Nordeuropas früher und aus einem weniger engen Blickwinkel wahrgenommen hätte? Lange galt der Norden als Hort mythologischer Urgewalt, wo die Götter aus Walhall weiter durch numinose Nebel ziehen und der Schall der Luren nie verklang. Die Opernwelt Richard Wagners und später der germanisch genordete Rassenwahn der Nationalsozialisten trugen wesentlich zur Festigung dieses romantisch begründeten Bildes bei. Hinzu kam die Fokussierung auf die großen Zentren, durch die manches schlichtweg übersehen wurde. Dabei haben Künstler aus Nordeuropa oft außergewöhnlich avantgardistische Positionen bezogen und einen ausgeprägt freiheitlichen Sinn für Experimentierfreude bewiesen – siehe etwa die Malereien und alchimistischen Versuche des Schweden August Strindberg oder die Landschaftsansichten der Finnin Fanny Churberg, die bereits Ende der 1870er Jahre mit ungeschönter Direktheit zu Werke ging: “Derber muss es sein!” schrieb die Künstlerin 1877 auf Deutsch in einem Brief an Hilda Kihlmann und gab sich damit das Signal zu einer malerischen Entfesselung, die bereits auf den Expressionismus vorausdeutet.
Zu den Nordeuropäern, die mit gesteigerter Neugier die Möglichkeiten einer sich formierenden Moderne erprobten, gehörte J. F. (Jens Ferdinand) Willumsen, der fast ein komplettes Jahrhundert revolutionärer technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen erleben sollte: Als er 1863 in Kopenhagen geboren wurde, herrschten vielerorts noch rein agrarische Strukturen – auch wenn Europa mitten im Industrialisierungsprozess stand; als Willumsen 1958, ein knappes Jahrhundert später, in seiner Wahlheimat Frankreich…