MICHAEL HÜBL
Uncertain Signs – True Stories
Badischer Kunstverein Karlsruhe, 21.4. – 14.6.2002
Wenn die Verhältnisse komplex, widersprüchlich, schwer durchschaubar sind, wächst der Wunsch nach einfachen Erklärungen und Handlungsmustern. Keuschheit als bewusste Virginität stellt ein solches Muster dar. Sie enthält ein doppeltes Versprechen. Auf der einen Seite erlaubt sie, frei zu bleiben von Verwicklungen, deren Folgen und Ausmaße nicht mehr ausschließlich dem eigenen Ermessen unterliegen; jenseits der Keuschheit wird der Sexualtrieb zu einem Faktor, der das Verhalten mitbestimmt, wenn nicht dominiert. Auf der anderen Seite enthält der Zustand des Jungfräulichen ein stillschweigendes Moment der Vorläufigkeit. Diesen Zustand aufzugeben bedeutet zwar einen irreversiblen Vorgang. Aber das Leben geht – anders als etwa beim Suizid – weiter, ja, es bietet vielleicht doch noch unbekannte Freuden bis hin zum “kleinen Tod”, la petite morte, wie die Franzosen den Orgasmus nennen.
Als Madonna, perfekte Stylistin des Pop, “Like A Virgin” auftrat, hat sie mit der Ambivalenz der Keuschheit operiert, inszenierte sie ihren Song und ihre Show auf dem schmalen Grat zwischen Unantastbarkeit und Grenzüberschreitung, zwischen Lust und Verzicht. Stimulation durch Simulation: Der Kunstgriff des Unterhaltungsprodukts “Like A Virgin” bestand darin, dass Madonna das sexuelle Tuning der Gesellschaft unterstützt und vorantreibt, indem sie eine Lebensform thematisiert, die für manche offenbar eine Alternative zur allumfassenden Sexualisierung eines hedonistisch überhöhten Kapitalismus bedeutet, wie ihn etwa der französische Autor Michel Houellebecq beschreibt. In seinem Roman “Elementarteilchen” schildert er mit der sachlich-distanzierten Diktion einer soziologischen Studie gesellschaftliche Verhältnisse, die vom “Libidinal-Massenkonsum nordamerikanischer Prägung” durchdrungen und von einer ubiquitären “Verführungsindustrie” beherrscht werden. Eine…