Norbert Bolz
Ulysses Flusser
Seit die geschichtsphilosophischen Illusionen der Moderne abgeschminkt sind, wird der Weg von den Tafeln der Sumerer zu den Chips von Silikon-Valley wieder in nüchternem Licht als Technikgeschichte erkennbar. Doch nur für die melancholischen Bewußtseine der Gutenberg-Galaxis ist das ein Anlaß zur Resignation. Vilém Flussers Werk entfaltet die konkrete Utopie unserer telematischen Weltgesellschaft: Inmitten einer zerstreuenden, betäubenden, zentralisierten – und damit eben tendenziell ‘fascistischen’ – Medienwirklichkeit des Broadcasting brechen die neuen Möglichkeiten einer dialogisch geschalteten, reversiblen, vernetzten Kommunikation auf. Flusser zielt auf eine technische Implementierung freier Anerkennungsverhältnisse. Deshalb prozediert sein Denken als Medienanalyse – und d.h. zunächst: als Phänomenologie der telematischen Technik und der ihr antwortenden Mutation des Bewußtseins. Diese Themenstellung gründet in der Einsicht, daß jede Beobachtung das, was sie beobachtet, zugleich manipuliert.
Es gibt kein Jenseits der Medien und Techniken; jede Wahrnehmung verletzt die Welt. Doch das Bewußtsein davon verliert sich im closed circuit zwischen Menschen und Bildern, der unsere Medienwirklichkeit konstituiert. Man könnte von einer Subversion des Textes durch die Flut der Bilder sprechen. Doch Flusser stimmt hier nicht ins kulturkritische Lamento über den Verfall der Kritik ein, sondern erkennt darin eine Epochenschwelle – ja, man könnte sagen: eine Scheidelinie, die Weltalter trennt. Denn die Flut der errechneten Bilder, die sich von den allgegenwärtigen Bildschirmen über uns ergießt, ist das Resultat einer Emanzipation des Numerischen vom Alphabetischen. An die Stelle des alphabetisierten Alteuropa tritt die digitalisierte Weltgesellschaft. Und wir nehmen heute Abschied von den linearen Aufschreibesystemen, die man Kultur oder Geist genannt hat. Jene Scheidelinie zwischen…