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Titel: ÜberLeben und Kunst. Bedingungen künstlerischer Existenz · von Martin Seidel · S. 46 - 47
Titel: ÜberLeben und Kunst. Bedingungen künstlerischer Existenz ,

ÜberLeben und Kunst.

Bedingungen künstlerischer Existenz
herausgegeben von Martin Seidel

Die Idee zu dieser Ausgabe von Kunstforum stammt noch aus dem Leben vor unserer Corona-Zeitrechnung. Kunst musste da noch nicht „systemrelevant“ genannt werden, um auf die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten des Systems und die Misere der Künstler*innen hinzuweisen. Die pandemiebedingten Kunstmarkteinbußen von über fünfzig Prozent führen den Künstler*innen jetzt nur noch deutlicher vor Augen: Entweder du bist eine/r von den wenigen, die ganz weit oben stehen und denen die Krise nicht so viel anhaben kann, oder du bist eine/r von den unzählbaren Anderen und hast nichts und bist nichts, obwohl auch du etwas Bedeutendes und Schützenswertes machst. Künstler*innen sind meistens zu beschäftigt mit ihren Ideen, um zu jammern. Das ist gut. Was aber, wenn Kunst zur reinen Überlebenskunst und Berufung zum Verhängnis wird?

Das System der Kunst ist faszinierend perfide. So arbeiten Künstler*innen zwar ebenso viel oder sogar mehr als andere Menschen, sie müssen aber nicht unbedingt morgens aufstehen und bestimmen selbst über ihre Arbeit. Sie dürfen sich auch „lustige Hüte“ aufsetzen und ihre gesellschaftliche Sonderrolle spielen und erhalten „wertschätzenden Beifall“. Der allerdings sollte sich – wie Dagmar Schmidt in ihrem Beitrag über die aktuelle wirtschaftliche und soziale Situation der Künstler*innen in Deutschland schreibt – denn auch „in einer respektablen Lebensgrundlage auch für die Künstler*innen abbilden.“

„Selbstausbeutung geht“, so Christian Saehrendt zur Psychologie des Künstlertums, „paradoxerweise mit dem Gefühl von Freiheit einher.“ Aber was heißt Freiheit? Viele Phänomene prägen und bedingen die künstlerische Existenz. Dazu gehören soziale, speziell migrantische Kontexte, mit denen sich in diesem Band die Kunstpädagogen Ansgar Schnurr und Jana Tiborra auseinandersetzen. Paul Kaiser behandelt strukturelle Dysbalancen zwischen dem Macht- und Prestigegewinn des Privatsammlers und dem Handlungsverlust der Museen. Sie erschweren das künstlerische Über-Leben, ebenso wie ein Kunstmarkt, der – mit den Worten Dirk Bolls – „schrittweise die Hegemonie musealer oder akademischer Expertise außer Kraft setzt“.

Haben Künstler*innen, die nicht genug verdienen, das System und ihre eigene Rolle darin nicht verstanden? Kunst ist „Business as usual“, und Künstler*innen können, sollen und müssen Marketing lernen – meint jedenfalls Magnus Resch. Das Galeristenduo Saskia Draxler und Christian Nagel dagegen wünscht sich „etwas Dysfunktionalität“ von Künstler*innen, die „etwas wollen und dafür etwas wagen“. Wie Schirin Kretschmann, die, wie sie im Interview sagt, selten an Absicherungen denkt, ständig aber prüft, „wo ich stehe und wie es weitergeht“.

Sportlicher Ehrgeiz gehört zweifellos zum Geschäft. Marc Wellmann zitiert in seinem Beitrag zum Wert von Kunst und künstlerischer Arbeit den Konzeptkünstler Timm Ulrichs, der sogar fragt, ob nicht gerade „die ganze Faszination der Kunst und nicht zuletzt auch ihr Erkenntniswert aus dieser einzigartigen Fallhöhe zwischen Grandiosität und Scheitern resultiert“.

Lebensentwürfe von Künstler*innen sind hinund hergeworfen zwischen Glorifizierung eines prekären Künstlerindividualismus und einem kompetitiven Neoliberalismus mit Folgen für die künstlerische Positionierung: Entweder ich bleibe meiner künstlerischen Überzeugung treu oder ich gehe, um ins Geschäft zu kommen, mehr Konzessionen ein. Aus diesem allgegenwärtigen Zwiespalt heraushelfen könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das allerdings sollte, so Philip Kovce zu diesem Thema, keine Sozialhilfe für Künstler*innen sein, sondern ein Gesellschaftsmodell, das auf Beuyssche Ideale zurückverweist.

Ein hohes Maß an beruflicher Erfüllung zeigt sich, so Annette Hermann, bei Kunstlehrer*innen, die künstlerisch-fachliche und pädagogische Fragen verbinden – und dabei natürlich auch ein festes Einkommen haben. Ganz grundsätzlich aber gilt, was Ana Dimke in ihrem Text zum Kunststudium schreibt: „Sich auf Kunst einzulassen, bedeutet bewusst eine offene, faszinierende Selbstentwicklung anzustoßen“.