vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Titel: Grosse Gefühle · von Hinderk M. Emrich · S. 112 - 117
Titel: Grosse Gefühle , 1994

H. M. Emrich
Über wahrnehmendes Bewußtsein und das Fühlen

1. Einleitung

Die kognitiven Wissenschaften – Forschungsrichtungen, die sich derzeit interdisziplinär durch Zusammenfassung von Kognitionspsychologie, Neurobiologie, Neuropsychologie und Informatik entwickelt haben – stehen vor der Aufgabe, Grundprozesse mentalen Geschehens durch Beschreiben geeigneter Simulationen aufzuklären. Bei der Simulation von Gefühlszuständen steht man dabei vor der Eigentümlichkeit, daß bereits die Beschreibungsform dessen, was es heißt, Gefühle zu haben, unsicher ist. Denn das Fühlen spielt sich in einem Bezirk irreduziblen Selbstseins von Subjekten ab, das nicht in dem aufgeht, was seine Beschreibung – als kognitive Leistung – zu rekonstruieren versucht; d.h., Gefühle gehen nicht in dem auf, was wir über sie wissen und sagen können: Gefühle sind autochthon, in ihrem Selbstsein nicht erreichbar. Allerdings können wir uns über Gefühle in gewisser Weise insoweit verständigen, als Gefühle betrachtet, beschrieben und interpersonal (im Hinblick auf gemeinsame intentionale Gegenstände, z.B. Musik) verglichen werden können.

Im Folgenden soll nun versucht werden zu zeigen, inwieweit konstruktivistische Systemtheorien Grundphänomene von Gefühlszuständen zu erklären in der Lage sind und daß insbesondere die Randzonen von Kategorialität in der Wahrnehmung mit hoher Wahrscheinlichkeit diejenigen Bereiche innerhalb einer Systemtheorie des Mentalen darstellen, in denen Gefühlszustände generiert werden.

2. Konstruktivität von »wahrnehmendem Bewußtsein«

Im täglichen Leben geht man in der Regel von einem Weltbild aus, das häufig von Philosophen auch als “naiver Realismus” bezeichnet wird. Hierbei wird stillschweigend vorausgesetzt, die äußere Wirklichkeit sei exakt so strukturiert, wie wir sie wahrnehmen, ganz so, als ob es genügen würde, die Welt, “wie sie wirklich ist”, einfach mit einer Kamera abzufotografieren bzw. abzufilmen, und das menschliche “Subjekt”, das “Ich”, sei nichts anderes als eine Art von Computer, der diese Sinnesdaten auswertet und in sich abbildet. Tatsächlich ist der Vorgang der Sinneswahrnehmung wesentlich komplizierter: Bevor Sinnesdaten ausgewertet, interpretiert und integriert werden können, bedarf es eines “Konzepts”, eines Weltbildes, eines “mitlaufenden Weltmodells” (Prinz, 1983), in das die aktuellen Sinnesdaten eingefügt werden bzw. von dem aus sie verworfen werden können. Dies führt zu einem Vergleich von “erwarteter Wirklichkeit” mit tatsächlicher Wirklichkeit und damit offenbar zu einem Erlebnis, das man mit den Worten beschreiben könnte: “Dies geschieht jetzt wirklich.”

Immanuel Kant hat in der “Kritik der reinen Vernunft” zur Konstruktivität der Wahrnehmung einen sehr bezeichnenden Satz geschrieben: “Daß die Einbildungskraft ein nothwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht.” Und Carl Friedrich von Weizsäcker sagt hierzu in seiner geschichtlichen Anthropologie unter dem Titel “Zur Biologie des Subjekts”: “Der Empirismus hält Sinnesdaten als solche für gegeben … er sieht nicht, daß Sinnesdaten schon unserer biologischen Ausstattung wegen gar nicht anders als unter einem mitwahrgenommenen Begriff gegeben sein können.” Bereits aus diesen Andeutungen ergibt sich, daß konstruktivistische Gedanken breit gestreut sind und daß somit “Konstruktivismus” keine in sich einheitliche Theorie darstellt; vielmehr handelt es sich um ein komplexes Bündel von Ideen, die zum Teil bis auf Giambattista Vico zurückgehen und sich teilweise in der Transzendentalphilosophie von Kant und Fichte wiederfinden, derzeit aber insbesondere im psychologischen Konstruktivismus – bespielsweise von Watzlawick (1981) – und dem neurobiologischen Konstruktivismus repräsentiert sind. Die Gedankenwelt des Konstruktivismus hat – im Gegenzug zum Empirismus – dazu geführt, daß der Begriff “Realität” in erheblichem Ausmaß an Selbstverständlichkeit und Einheitlichkeit verlor, so daß wir uns derzeit in einem wissenschaftlichen Klima des “Wirklichkeitsrelativismus” vorfinden, der mit Begriffen wie “Wirklichkeitsfiktion” und “Wirklichkeitsüberarbeitung” charakterisiert werden kann.

Neurobiologie von “Bewußtsein” stellt den derzeit herausragendsten Forschungsgegenstand der Naturwissenschaften dar. Dabei ist der Begriff “Bewußtsein”, “consciousness”, seinerseits so unscharf und vielgestaltig, daß eine begriffliche und phänomenale Einengung vordringlich ist, um den Forschungsgegenstand zu präzisieren und Chancen für Forschungsfortschritte zu ermöglichen. Die angloamerikanische Literatur hat deshalb den Begriff der “awareness”, als “consciousness awareness” oder “perceptual awareness” eingeführt, um die Konnotation des Gegensatzes von Bewußtsein zum Unbewußten zu eleminieren. Bewußtsein als Forschungsgegenstand rückt damit in den Bereich der Wahrnehmungsforschung, was den Vorteil beinhaltet, daß auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie und Wahrnehmungspsychophysik relativ viele exakte Daten vorliegen, wobei sich die konzeptuelle Forschungssituation in den letzten Jahren ebenfalls wesentlich verbessert hat.

Eine mögliche Form der Darstellung der gegenwärtigen wahrnehmungspsychologischen und neurobiologischen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Wahrnehmungsforschung ist die “Drei-Komponenten -Hypothese” der Wahrnehmung. Diese geht davon aus, daß Wahrnehmung nicht auf einem in sich einheitlichen Prozeß beruht, sondern vielmehr die Resultante der komplexen Interaktion mehrerer Teilkomponenten des Systems darstellt, die sich einerseits als sensorische Komponenten, andererseits als Konzeptualisierungskomponenten (auch konstruktivistische Komponenten genannt) und drittens als, wenn man so will, “wirklichkeitsüberarbeitende”, zensurierende und korrigierende Komponenten beschreiben lassen. Die Neurobiologie, z.B. Arbeiten von Heiligenberg (1987), zeigt nun, daß diese Teilkomponenten relativ autonom funktional wirksam werden, d.h., daß sie weitgehend unabhängig voneinander gewissermaßen ihre “Voten” für die Generierung des Gesamtresultates beisteuern und daß erst die Resultante des interaktiven Prozesses letztlich zu dem mental wirksamen bewußten Wahrnehmungsresultat führt. Untersuchungen von Singer (1990) geben starke Hinweise dafür ab, daß diese Bildung des resultierenden Ergebnisses der neuronalen Interaktion durch Kohärenzmuster gewisser neuronaler Oszillationen im Bereich von 40 bis 60 Hertz vollzogen wird.

Versucht man nun, den hier dargestellten Komponenten neuropsychologische Mechanismen im Zentralnervensystem (ZNS) zuzuordnen, so lassen sich die konzeptualisierenden Anteile am ehesten auf die von Mumford (1991) beschriebenen cortico-thalamischen Rückkoppelungsschleifen beziehen, während im visuellen System die sensualistische, sog. “Bottom-up”-Komponente sich auf die Faserverbindungen von der Retina über das Genikulatum laterale bis hin zu Area 17/18/19 des Occipitallappens beziehen läßt.

Die von Gray und Rawlins (1986) entwickelte Theorie hippocampaler Comparatorsysteme, die die Autoren kürzlich auch auf die Theorie schizophrener Psychosen (Gray et al., 1991) ausdehnten, gibt Hinweise darauf, daß zensurierende, wirklichkeitsüberarbeitende und korrigierende Systeme vorwiegend mit Gedächtnis-speichernden Systemen des Hippocampus und den damit möglich werdenden “mitlaufenden Weltmodellen” identifiziert werden können. Es ergibt sich somit folgendes Interaktionsschema für die visuelle Wahrnehmung i.S. der Drei-Komponenten-Hypothese:

1. sensorischer Eingang (Retina – Occipitalhirn),

2. Konzeptualisierung (cortico-thalanische Rückkoppelungsschleifen),

3. Zensur (hippocampale Comparatoren).

Vom Standpunkt der theoretischen Biologie aus, insbesondere aus der Sichtweise der Informationsdynamik, einer sich derzeit dramatisch entwickelnden Subtheorie der Theorie nichtlinearer Prozesse, erscheint nun allerdings eine Vereinfachung und Reformulierung der Neurobiologie der Wahrnehmung sinnvoll und erforderlich, die eine Übersetzung der Drei-Komponenten-Hypothese der Generierung von bewußter Wahrnehmung in die Sprache der Informationsdynamik gestattet. Die sich hierbei ergebende Konzeption wurde gemeinsam mit Atmanspacher vom Max-Planck-Institut in Garching entwickelt. Es wird dabei angenommen, daß bei der Wahrnehmung sowohl strukturelle als auch dynamische Komponenten im Spiel sind, wobei die Strukturkomponenten als a) “System” und b) “Modell” bezeichnet werden und die Dynamik des Inter- aktionsprozesses als “Einrastprozeß” beschrieben wird. Die Konzeption besagt ferner, daß die funktionelle Koppelung der beiden Komponenten, d.h. das “Einrasten”, gleichbedeutend ist mit dem basalen funktionellen Geschehen des “Wahrnehmens”. Mit anderen Worten: Die Hypothese beinhaltet, daß nur, wenn “Modell” und “System” miteinander interagieren, ein Wahrnehmungsakt erfolgt. Die dabei entwickelten Modellvorstellungen gehen zudem davon aus, daß es ganze Hierarchien solcher Alternativen von Einrastprozessen gibt und daß letztlich das höchststufige Interaktionsresultat dann als bewußtes Verrechnungsresultat im Wahrnehmungshorizont erscheint. Allerdings ist anzunehmen, daß diese Form der Bewußtseinsbildung nur die basalste denkbare Form ist, denn Bewußtsein im höheren Sinne impliziert die Formierung auch von Metarepräsentationen, d.h. von Repräsentationen von Repräsentationen, die Wirklichkeitsmodelle evaluieren und falsifizieren können. Es handelt sich somit um “Modelle von Modellen”, um Metamodelle, Modelle zweiter Ordnung, die mit Modellen erster Ordnung in Interaktion treten können (Abb. 1).

Es ist zu vermuten, daß Modelle zweiter Ordnung Modelle erster Ordnung gewissermaßen als “System”, d.h. als Ensemble von Rohdaten, interpretieren, entsprechend dem Satz von Crick und Koch (1990), daß im Zentralnervensystem “interpreted data” prozessiert werden “rather than the raw data”. Von der Warte eines solchen Modells der internen Verrechnung von Repräsentationen fiktionaler Wirklichkeiten treten nun Fragen nach dem Verhältnis zwischen Wahrnehmungsgehalten, kognitiven Repräsentationen und Bewertungen sowie nach den hierbei mitlaufenden Gefühlszuständen auf. Eine wesentliche Rolle hierbei spielen Fragen der “internen Zensur”, der internen Bewertung und ihrer Regeln.

Zensurierende Systeme, die, wie oben dargestellt, beispielsweise auf hippocampale Comporatorsysteme bezogen werden können, basieren auf Prägungen durch die Geschichte des Systems, basieren also auf Engrammen, Gedächtnisspuren, die es gestatten, das “hier und jetzt”, d.h. den aktuellen Zustand des Systems, in Bezug zu setzen zu den bisherigen Vorerfahrungen, zu den bisherigen Regularitäten (vgl. Abb. 2). Zensur ist in diesem Sinne das Durchsetzen des Üblichen, durchschnittlich Normalen, Gewohnten, Vertrauten, des regelhaft immer schon so Gewesenen, des “Was-nicht-sein-kann – das-nicht-sein-darf”, gegen den Einzelfall, gegen das Extravagante, Ungewöhnliche, Aus-dem-Rahmen-Fallende. Zensur erzeugt in diesem Sinne eine Art “Realitätsglättung”, eine Stabilisierung von Wirklichkeitsfiktionen, die – evolutionsbiologisch gesprochen – insofern vorteilhaft sind, als sie gewissermaßen einen Kanon von bisher in vergleichbaren Situationen lebenserhaltenden Verhaltens- und Erkennensrepertoires sicherstellen.

3. Über Subjektivität

Subjekttheoretische Überlegungen der Kognitions-theorie der Gegenwart gehen davon aus, Subjektivität lasse sich aufgrund objektivierbarer Daten über neuronale Systeme, z. B. neuronale Netze, rekonstruieren und simulieren. Eine auf diese Weise erfolgende Rekonstruktion subjektiver Lebens- und Weltwirklichkeit stößt auf fundamentale Schwierigkeiten, die unter anderem der New Yorker Philosoph Thomas Nagel thematisierte. In seinem Artikel “What is it like to be a bat?” (“Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?”) schreibt Thomas Nagel: “Grundsätzlich aber hat ein Organismus bewußte mentale Zustände dann, und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein – wenn es irgendwie für diesen Organismus ist. Wir können dies den subjektiven Charakter von Erfahrung nennen.”

Die Schwierigkeit des Einfühlens in den Emotionszustand eines fremden Lebewesens (Problem der Hermeneutik) ist besonders anschaulich aus einem von Martin Buber mitgeteilten Gespräch von Tschuang-Tse mit Hui-Tse “Die Freude der Fische” abzulesen, wo es heißt:

“Tschuang-Tse und Hui-Tse standen auf der Brücke, die über den Hao führt. Tschuang-Tse sagte: “Sieh, wie die Elritzen umherschnellen! Das ist die Freude der Fische.”

“Du bist kein Fisch”, sagte Hui-Tse, “wie kannst du wissen, worin die Freude der Fische besteht?”

“Du bist nicht ich”, antwortete Tschuang-Tse, “wie kannst du wissen, daß ich nicht wisse, worin die Freude der Fische besteht?”

“Ich bin nicht du”, bestätigte Hui-Tse, “und ich weiß dich nicht. Aber das weiß ich, daß du kein Fisch bist; so kannst du die Fische nicht wissen.”

Tschuang-Tse antwortete: “Kehren wir zu deiner Frage zurück. Du fragst mich: “Wie kannst du wissen, worin die Freude der Fische besteht. Im Grunde wußtest du, daß ich weiß, und fragtest doch. Gleichviel. Ich weiß es aus meiner eigenen Freude über dem Wasser.”

Daß Subjektivität, obwohl wir alle, und zwar ununterbrochen, in ihr leben, so schwer verständlich gemacht werden kann, liegt wohl daran, daß unser szientifisches Weltbild uns dazu neigen läßt, uns als Objekte, als Vorkommnisse in der Welt der Dinge, aufzufassen und insofern auf unsere eigenen, für unser Überleben notwendigen und hierzu von der Evolution entwickelten Verdinglichungsprogramme hereinzufallen. (In diesem Sinne spricht Whitehead in “Prozeß und Realität” (1979) davon, daß “der gesunde Menschenverstand unbeugsam objektivistisch ist”.) Insofern hat der Fledermaus-Artikel von Thomas Nagel eine herausragende Triggerfunktion für die Revitalisierung der Subjektivitätsfrage gehabt. Verschärft und auf den Punkt gebracht wird sie eben gerade dadurch, daß – wie beispielsweise von Martin Heisenberg – gefragt wird: Wie ist es, ich selbst zu sein?

Die Erklärung von Subjektivität stellt für die neurobiologische Systemtheorie eine besondere Schwierigkeit dar, die damit zu tun hat, daß erklärt werden soll, wie überhaupt eine Innenperspektive entstehen kann. Man kann sich ein (als Objekt angeschautes) System vorstellen, das Gedanken hat – in gewissem Sinn ist ein Computer ein System, in dem Gedanken repräsentiert sind. Sich aber ein System vorzustellen, das erleidet, das Schmerzen erträgt, das Freude empfindet, etc. ist schwierig.

Ein systemtheoretisches Schema zur Frage, wie derartige Innenwelten, mentale Sphären mit Innenperspektiv-Charakter entstehen können, ist in Abb. 3 dargestellt. Die Kognitionstheorie der Gegenwart hat auf der Grundlage der von Rössler und Primas formulierten sogenannten “Endo-Physik” “struktur-dynamische Modelle” vorgeschlagen, innerhalb deren die Formierung von Bewußtsein erklärt wird. In diesem Modell stehen, wie in Abb. 1, zwei strukturelle Komponenten einander gegenüber, die als Systemkomponenten bezeichnet werden. Die eine Komponente repräsentiert Sinnesdaten, die andere interne Modelle solcher Daten, d.h. Konzeptualisierungen. Die Dynamik der Interaktion zwischen den beiden Komponenten wird wiederum als “Einrastprozeß” beschrieben und wird als Elementarprozeß der Wahrnehmung und damit von bewußtseinsfähigen Prozessen angesehen. Dieser Wahrnehmungsapparat steht nun aber mit zwei “Endo- Welten” in Kontakt: Endo I repräsentiert die “Außendinge”, Endo II die “limbische”, die innere Emotions- und Wertewelt. Die Pointe dieses Modells ist, daß Subjektivität hier als ein “Interface”, als eine Welt der “Übersetzung” zwischen Außen-Realität und inneren Gefühlssphären erscheint (Emrich, 1994).

Bei dem soeben beschriebenen Elementarprozeß von Wahrnehmung stellt sich die Frage, wie das Wahrnehmungssystem mit Sinnesdatenkonstellationen fertig wird, bei denen eine Diskrepanz zwischen Sinnesdatenlagen und Konzeptualisierung in der Weise auftritt, daß das Wahrnehmungsresultat nicht in den Erwartungshorizont “paßt”. Eine derartige Konstellation läßt sich innerhalb einer neuropsychologischen Theorie der Angst darstellen.

4. Kategorialität und Gefühl: eine neuropsychologische Theorie der Angst

Angst ist ein natürliches Phänomen des Alltagslebens und ist begrifflich wie methodisch schwer zu fassen. Angst als “Alarmzustand des Nervensystems” kann als notwendiger Schutzmechanismus aufgefaßt werden, der situativ durch angsterzeugende Stimuli ausgelöst wird. “State anxiety” (ein vorübergehender Angstzustand aufgrund von Angststimuli) kann unterschieden werden von “trait anxiety”, worunter die individuelle Grundängstlichkeit verstanden wird. Angst ist dann als pathologisch anzusehen, wenn sie in vergleichbaren Situationen wesentlich ausgeprägter als von anderen Individuen erlebt wird oder sich gegen Objekte oder Situationen richtet, die üblicherweise keine Angst auslösen.

In den gegenwärtigen Theorien über Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Bewußtsein spielt der Begriff des “mitlaufenden Weltmodells” eine entscheidende Rolle (vgl. Prinz, 1983). Hierbei geht man davon aus, daß – wie oben angedeutet – bewußte Wahrnehmung einen interaktiven Prozeß darstellt, bei dem Wahrnehmungshypothesen “getestet” und die im “Konzeptualisierungsprozeß” gebildeten Hypothesen mit den jeweils einlaufenden Sinnesdaten verglichen werden. Dieser Vergleich zwischen den in Langzeitgedächtnisspeichern repräsentierten, als “Weltmodell” charakterisierbaren Erwartungswerten und den jeweils in der aktuellen Situation sich ergebenden Sinnesdaten stellt die wesentliche Grundlage für die bewußte Erfassung von Wirklichkeit dar. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Gewöhnung an das regelmäßige Tropfen eines Wasserhahns, das soweit in das mitlaufende Weltmodell eingebaut werden kann, daß es schließlich völlig unbeachtet bleibt (selektive Aufmerksamkeit). Bei Ausbleiben eines solchen Tropfgeräusches kann dann jedoch eine regelrechte “Weckreaktion” erfolgen, gerade deshalb, weil die Diskrepanz zwischen dem Erwartungswert und der tatsächlichen Sinnesdatenlage ein “Comparator-System” regelrecht “alarmiert”.

Die Autoren Gray und Rawlins (1986) haben dieses Grundprinzip angewendet, um zu einem modellhaften Verständnis der Neurobiologie der Angst und der psychopharmakologischen Therapiemöglichkeiten zu gelangen. Nach diesem Modell wirken angstlösende Medikamente dadurch, daß sie ein “behavioral inhibition system”, d.h. ein Hemmsystem bestimmter Verhaltensweisen, in seiner Aktivität beeinflussen, und zwar so, daß sie die durch ungewöhnliche Außenreize und verschiedene Arten von Stressoren ausgelöste Aufmerksamkeitsreaktion und den damit verbundenen Erregungszustand herabmindern, was zur Folge hat, daß das im jeweiligen Moment sinnvolle Verhalten durch den Stressor weniger stark gehemmt wird (Streßreduktion). In diesem Sinne ist davon auszugehen, daß die vorzugsweise im Hippocampus und in verwandten Strukturen lokalisierten “Comparator-Systeme” neurobiologische “Alarmsignale” gerade dann aussenden, wenn unerwartete Sinnesdaten auftreten, die das übliche Ausmaß von Diskrepanz überschreiten. Diese Diskrepanzmeldung wird in psychischer Hinsicht vom System als “Angstzustand” erlebt. Angstlösende Medikamente, wie die Benzodiazepine haben offensichtlich die Eigenschaft, diese Diskrepanzmeldungen in ihrem Ausmaß zu verringern bzw. die Ansprechbarkeit des Systems auf diese Signale zu vermindern.

5. Emotions-Konstruktivismus

Aufgrund dieser Konzeption läßt sich vermuten, daß Gefühle an der Stelle im Wahrnehmungssystem auftreten, wo dieses signifikante Diskrepanzen zwischen erwarteten sensorischen Daten und aktualen Sinnesdaten entdeckt, wobei insbesondere zu vermuten ist, daß das Phänomen der “Nichtdeutbarkeit”, d.h. das Auftreten von Konstellationen, die sich innerhalb bestehender Erfahrungen gängigen Kategorialisierungen entziehen, Anlaß zu emotionellen internen Signalen darstellt. Das heißt: Die Frage, wie sich dieses hier angedeutete Verhältnis zwischen emotionaler Subjektivität und System- eigenschaften konzeptualisieren läßt, kann man versuchen durch eine Art von “Emotions-Konstruk- tivismus” zu beantworten. Das Problem, wie aus der Welt der Neurobiologie, aus der “Welt der Dinge”, Gefühlswelten erzeugt werden können, läuft auf die Frage hinaus, wie “Bedeutungsgeneratoren” funktionieren, d.h., wie “intentionale Muster” entstehen. Hier ist eine Ebene des Zusammenhangs von Psyche und Materie erreicht, die sich unserer anschaulichen Vorstellung entzieht. Die Möglichkeit, daß “Innenperspektiven” erzeugt werden können, die einer objektiven Rekonstruktion offenbar nicht zugänglich sind, basiert auf den “intentionalen Eigenschaften” der unser Bewußtsein erzeugenden Systeme. Strukturen, denen diese Eigenschaft von Intentionalität zukommt, können sich “auf etwas beziehen”, sind nicht nur das, was sie für sich selbst oder als solche sind. Vielmehr haben sie einen basalen Verweischarakter, können quasi “auf etwas zeigen”, können etwas “meinen” (Searle).

Um die zugrundeliegende Paradoxie aufzulösen, ist es nun notwendig, anzunehmen, daß es in analoger Weise, wie es interne intentionale Gehalte in dem Sinne gibt, daß Weltkonstruktionen erzeugt werden, auch interne intentionale Gehalte gibt, die “Fühlwelten” konstruieren, d.h., daß diese Systeme Erlebnisse wie “Schmerz”, “Hunger”, Wut”, “Sorge”, “Angst”, “Glück” erzeugen. In ähnlicher Weise ist auch davon auszugehen, daß das vom Subjekt normalerweise als unmittelbar und einheitlich erlebte “Ich” ein vom System erzeugtes Konstrukt ist. Wenn somit ein vom “Ich” erlebtes Gefühl das Ergebnis einer vom System erzeugten “Fühlweltkonstruktion” ist, so ändert sich die Frage, wie eine als systemtheoretisches Erklärungsmodell konzipierte “Maschine”, die z.B. Schmerzen empfindet, aussehen müßte. Die Frage lautet jetzt: “Wie muß eine Maschine konstruiert werden, die einen intentionalen Gehalt erzeugen kann, eine Verweisstruktur, die einen spezifischen Gefühlston repräsentiert?”

Eine solche Maschine können wir uns deshalb nicht vorstellen, weil sie von unserem internen “Wirklichkeitsoperator” stets als ein verdinglichtes Objekt konstruiert wird, bei dem der entscheidende Punkt, das Moment des Verweisenkönnens, fehlt. Insofern ist auch unsere Wirklichkeitskonstruktion eines Objekts “System Gehirn” unzureichend und vereinseitigend, weil sie die Dopplung, Gegenstand unserer Betrachtung und zugleich Quelle von Intentionalität zu sein, nicht enthält, da sich dieser Systemaufbau unserer Anschauung entzieht. Es wird deshalb hier der Vorschlag gemacht, die unser Bewußtsein generierende Struktur als “Hyperstruktur” und eine “Systemtheorie intentionaler Hyperstrukturen” als “Hypersystem-Theorie” zu bezeichnen; dies, um anzudeuten, daß das Reden von einem Objekt unserer Anschauung (Gehirn) nur zum Teil dasjenige System (das Hypersystem) trifft, das als Ermöglichungsbedingung unseres eigenen geistigen Vollzugs angesehen werden muß. Max Planck hat diese Schwierigkeit der Selbstpenetration kognitiver Systeme mit dem Satz angesprochen: “Science cannot solve the ultimate mystery of nature. And it is because in the last analysis we ourselves are part of the mystery we are trying to solve.” Donald MacKay äußerte sich in analoger Weise: “What impresses me more and more is the element of irreducible mystery that attends our human condition {…} we have to face an irreducible dualism in our own nature – not, of necessity, a dualism of ‘stuffs’, but a dualism of aspect which no mechanistic analysis can exhaust.”

Bewußtsein haben heißt, ein mit dem Lebensvollzug mitlaufendes intentionales Wirklichkeitsmodell zu haben und dieses mit einlaufenden Sinnesdaten zu vergleichen. Für das Bewußtsein von Gefühlen bedeutet dies, aktuelle Gefühlszustände immer mit möglichen Alternativen des inneren Modells zu vergleichen. Hierbei ist das Subjekt – im Sinne von Wittgenstein – immer eine “seltsame Grenze zur Welt”. Dieser Zustand ist eng verknüpft mit der Entwicklung von “Wertewelten”.

Aus den bisherigen Darstellungen ging hervor, in welcher Weise “intermodale Integration”, d.h. eine besondere Form von interner “Kohärenz”, auf der Grundlage widersprüchlicher “Voten” von Partialsystemen erzeugt wird. Da alles, was kognitiv und von der Seite der Wahrnehmung verarbeitet wird, letztlich in einen Bewertungskontext gezogen wird, kann eine Gesamtbewertung der aktuellen Situation nur dann erfolgen, wenn die Kohärenz weitgehend vollständig gemacht ist. Somit könnte es sein, daß die Prägnanz dessen, was wir als Bewußtsein erleben, eben gerade darin liegt, daß es widerspruchsfrei ist (bzw. uns so erscheint) und daß die Erzeugung von Kohärenz und die intermodale Integration vorausliegen, bevor wir etwas als “bewußt” erleben*. Andere Formen von Bewußtsein können wir nicht ansprechen: Sie sind vielleicht in uns vorhanden und somit vielleicht “uns”, aber nicht unserem Bewußtsein bekannt.

ANMERKUNGEN
* Hegel geht in seiner Dialektik insofern über diese traditionelle Weise des Bewußtseinsvollzugs hinaus, als er ihn in “Momente” zerlegt, die widersprüchlich sind (Hegel: “Die Wahrheit ist widersprüchlich”) und in denen ein Moment sein Gegenteil “an sich haben” kann.
LITERATUR:
Atmanspacher, H.: Categoreal and acategoreal representation of knowledge. Cognitive Systems 3-3: 259-288 (1992).
Crick, F., and Koch, Ch.: Towards a neurobiological theory of consciousness. The Neurosciences 2, 263-275 (1990).
Emrich, H.M.: Semantic pressure, hyper-systems, and feelings. In: H. Atmanspacher u. G.J. Dalenoort (eds): Endo/Exo-Problems in Dynamical Systems. Springer Verlag, Heidelberg (1994).
Gray, J.A.; Feldon, J.; Rawlins, J.N.P.; Hemsley, D.R.; Smith, A.D.: The neuropsychology of schizophrenia. Behav. Brain Sci. 14, 1-84 (1991).
Gray, J.A.; Rawlins, J.N.P.: Comparator and buffer memory: an attempt to integrate two models of hippocampal functions. In: The Hippocampus. Isaacson, R. L., Pribram, K. H. (Ed.), New York, Plenum vol. 4, 151-201 (1986).
Heiligenberg, W.: Central processing of sensory information in electric fish. Comp. Physiol. A161, 621-631 (1987).
Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am.M. (1974).
MacKay, D.M.: A mind’s eye view of the brain. In: Progress in Brain Research, Vol. 17: Cybernetics of the Nervous System. N. Wiener, J.P. Schadé (eds.). 321-332. Elsevier, Amsterdam (1965).
Mumford, D.: On the computational architecture of the neocortex. Biol Cybern, 65: 135-145 (1991).
Nagel, T.: What is it like to be a bat? Philosophical Rev. 83: pp. 435-450 (1974). (Deutsche Übersetzung: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?) In: Analytische Philosophie des Geistes. P. Bieri (Hrsg.), Hain Verlag, Königstein/Ts. 1981, S. 261-275.
Heisenberg, M.: Gedanken zu einer biologischen Theorie der Wahrnehmung. Vortrag im Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried b. München (1990).
Primas, H.: Chemistry, Quantum Mechanics, and Reductionism. Springer, Berlin (1983).
Prinz, W.: Wahrnehmung und Tätigkeitssteuerung. Springer, Heidelberg (1983).
Rössler. O.E.: Endophysics. In: Casti I L, Karlqvist A. (eds): Real Brains, Artifical Minds. Elsevier, New York (1987), pp 25-46.
Searle, J.R.: Intentionalität. Suhrkamp, Frankfurt (1987).
Singer, W.: Search for coherence: a basic principle of cortical self-organization. Concepts in Neuroscience 1, 1-26 (1990).
Singer W.: Zur Selbstorganisation kognitiver Strukturen. In: Pöppel E. (Hrsg.): Gehirn und Bewußtsein. VCH, Weinheim (1989).
Vico, G.: De antiquissima Italorum sapientia (1710). Neapel, Kapitel VII, 3. (1858).
Watzlawick, P.: Die erfundene Wirklichkeit. Piper, München (1981).
v.Weizsäcker, C.F.: Der Garten des Menschlichen. Hanser, München (1977).
Whitehead, A.N.: Prozeß und Realität. Frankfurt a.M. (1979).
Hinderk M. Emrich, geb. 1943, ist Psychiater, Psychoanalytiker und Leiter der Abteilung Klinische Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten der klinischen Pharmakologie, Neurobiologie und Wahrnehmungspsychologie.
Buchveröffentlichung: Psychiatrische Anthropologie – Therapeutische Bedeutung von Phantasiesystemen, München, 1991.

von Hinderk M. Emrich

Weitere Artikel dieses/r Autors*in