Hermann Danuser
Über Mimesis und Imitation in der Musik
Wer angesichts der Frage nach der Bedeutung von Mimesis für die Musik meint, diese Kategorie besäße hier – im Unterschied zur bildenden Kunst und zur Dichtung – keine direkte Bedeutung, weil die Musik sich auf kein außermusikalisches Gegenüber beziehe, kann sich gewiß auf namhafte Zeugen berufen. Insbesondere Theoretiker der Tonkunst aus dem 19. Jahrhundert – und zwar so gegensätzliche wie Arthur Schopenhauer und Eduard Hanslick – suchten das Spezifische der Musik damit zu begründen, daß sie ihren nichtmimetischen Charakter und die Selbstgesetzlichkeit ihrer Materialausformung hervorhoben. Als unmittelbares “Abbild des Willens”, statt als Abbild der Ideen, ist das Wesen der Musik in Schopenhauers Philosophie in striktem Gegensatz zu jeglicher Nachahmungsästhetik bestimmt, ja man kann sagen, daß überall dort, wo Momente der musikalischen Nachahmung für eine Musik noch von Bedeutung sind, diese nicht auf der Stufe einer metaphysisch relevanten Tonkunst angesiedelt ist.
Ein Blick auf die Geschichte der Musikästhetik macht freilich deutlich, wie kurz diese Phase einer nichtmimetischen Konzeption gegenüber all jenen Perioden gewesen ist, in denen Mimesis und Nachahmung1, nicht anders als in allen übrigen Künsten, auch die Theorie der Musik bestimmte. Bereits die Mythen über die Entstehung und den Ursprung der Musik – ob sie nun als Nachahmung des Vogelgesangs, eines sprachlich-melodiösen “Urschreis” oder geordneter Zahlenproportionen bestimmt wurden – lassen das imitative Prinzip wesentlich hervortreten. Und später, als in der Renaissance und im Barockzeitalter – insbesondere vom 16. bis 18. Jahrhundert – im Anschluß an Aristoteles die Formel von der “imitazione della natura”,…