Peter Sloterdijk
Über die Entstehung der res publica aus dem Geist der Empörung
Wann immer Politiker und Politologen sich über den Zustand einer modernen res publica Gedanken machen, drängen Reminiszenzen an das alte Rom sich auf. Das widerfuhr auch jüngst dem glücklosen deutschen Außenminister, als er, um den in seinen Augen allzu üppigen Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedanken verfiel, die heutigen Verhältnisse mit den Niederungen der „römischen Dekadenz“ zu vergleichen. Welche Vorstellungen er hiermit verband, konnte nie genau ermittelt werden. Vielleicht waren dem Gast an der Spitze des Auswärtigen Amts vage Erinnerungen an das System des kaiserzeitlichen Plebs-Managements durch Gladiatorenspiele in den Sinn gekommen, möglicherweise dachte er auch an die obligatorischen Getreidespenden für die arbeitslosen Massen der antiken Metropole. Beides wären Nachklänge des hastigen Geschichtsunterrichts, den die meisten deutschen Gymnasiasten des Jahrgangs 1961 (Westerwelle u.a.) genossen. Sie enthalten nichts, was zu Besorgnis Anlass gäbe.
Entmachtung der geheiligten Formel „Senat und Volk von Rom“ (SPQR)
Immerhin, der Hinweis auf die „römische Dekadenz“ im Mund eines deutschen Politikers war nicht nur ein Symptom von standesgemäßer Halbbildung. Er war auch nicht bloß ein Symptom von verbalem Draufgängertum, das bei einer gewissen Klientel Eindruck machen sollte. Er enthielt eine Reihe von gefährlichen Implikationen, denen der Redner ohne Zweifel ausgewichen wäre, hätte er sie sich bewusst gemacht. Das römische Brot-und-Spiele-System war ja nicht weniger gewesen als die erste Ausgestaltung dessen, was man seit dem 20. Jahrhundert als „Massenkultur“ bezeichnet. Es symbolisierte die Wende von der gravitätischen Senatorenrepublik zum postrepublikanischen Theaterstaat mit einem kaiserlichen Mimen im…