DIETER MERSCH
Tyche und Kairos
»EREIGNEN« ZWISCHEN HERRSCHAFT UND BEGEGNENLASSEN
Mit Tyché und Kairos sind im abendländischen Denken zwei gegenläufige Weisen von Ereignissen genannt. “Tyché liebt Techné und Techné liebt Tyché”, hat der antike Dichter Agathon geschrieben. Der Zufall oder auch das unerwartete Glück provozieren einen Willen zur Aneignung, eine Technik ihrer Erzwingung oder Konstruktion. Sie unterstehen der Logik des Plans, des Entwurfs, dem Anspruch auf Herrschaft. Dagegen kommt Kairos nur dort, wo nichts gewünscht, erhofft oder beabsichtigt ist: ihm gleicht das Bild der Blüte, von welcher der Mystiker Angelus Silesius gesagt hat, sie sei “ohne Warum: Sie blühet, weil sie blühet”. Zum Kairos gehört darum eine Kunst der Ankunft und des Begegnenlassen, die allerdings noch eine Umwendung der Haltung erfordert: Übergang vom Willen zum Nichtwollen, von der Absicht zur Absichtslosigkeit.
1. Tyche und Ananké
“Your chance ist different from mine.”
Marcel Duchamp
AUF DER FLUCHT. Tyche, die Unberechenbare, deren Spielzeug der Ball ist: Zeus gab ihr die Macht, über das Schicksal der Sterblichen zu entscheiden. Als Gottheit ist sie in erster Linie eine Erfindung der Philosophie, die ihre besondere Stellung in der Spätantike bewahrte. Ihr war die Nemesis, die göttliche Rache an die Seite gestellt, als Warnung vor menschlichem Hochmut. Tyche: die Schwankende, Flüchtige, der die ganze Sehnsucht, das Verlangen galt, die dennoch nirgends zu erringen war: Zufall, der im Unerwarteten einbricht und seine Gunst ebenso unvermittelt wieder entziehen kann, umschlagen in grausame Not. Ein antiker Fries zeigt sie auf der Flucht vor dem Menschen, der seinerseits sich auf der Flucht befindet vor der…