Christian Borngräber
Trennende Gemeinsamkeiten
Auch diese Herrentoilette hatte den Charme eines spätbürgerlichen Wohnzimmers: raumfüllende Barockornamente auf den Kachelwänden, Wandlampen in Kristallimitation, saharawarme Farben überall und gedämpfte Musik aus versteckten Lautsprechern. Dies alles schien vom Wirt mit Liebe ausgewählt, und so waren pistaziengrüne Waschbecken eine Selbstverständlichkeit. Ich zögerte noch, ob ich mich tiefer in diesen Geschmacksdschungel begeben oder an den nächsten Baum stellen sollte, als ich beiseite gestoßen wurde. Ein Greis sprang behende auf eines der Pissoirs zu und fiel vor ihm auf die Knie. Mit spitzen Schreien befingerte er die Sanitärkeramik. Sichtlich erregt riß er das Schutzsieb für Zigarettenkippen aus der Versenkung, und die Dufttabletten flogen in hohem Bogen durch die Luft. Dieses Schauspiel interessierte mich nun wirklich, und ich trat näher. Der Mann schien keineswegs beunruhigt, sondern zeterte noch lauter, so daß ich um meinen guten Ruf zu fürchten begann. Dann stürzte er sich in missionarischem Eifer auf die restlichen Pissoirbecken und überschüttete mich mit einem französisch-amerikanischen Kauderwelsch, dem ich entnehmen konnte, daß er ein multimedial begnadetes Künstlertalent sei, immer Pech mit den Frauen habe, mal hier und mal dort lebe. Durch reine Willensanstrengung sei es ihm möglich, banale Designobjekte in große Kunstwerke zu verwandeln, und er mißbillige aufs schärfste, wie hier teure Museumsstücke durch pissende Spießer entweiht würden. Als er unter Aufbietung aller Kräfte gegen die Becken trat und die sensorgesteuerten Spülen verrücktzuspielen begannen, schien es mir an der Zeit, ihn zu einem Bier einzuladen. Das einzig konkrete Ergebnis unseres anschließenden Gesprächsversuches war, daß Porzellane weiß zu sein haben,…