THEORIEN DES ABFALLS
HERAUSGEGEBEN VON PAOLO BIANCHI
Paradox, dass sowohl die Kunst als auch der Abfall, etwas Unberührbares haben, wenn auch der Gegensatz nicht krasser sein könnte: das Erhabene und das Eklige.
Der Linearität von Produkt – Konsum – Abfall – Mülldeponie (die Ware/wahre Kunst landet im Museum), wird von Müllkünstlern ein non-lineares, zyklisches Verfahren gegenübergestellt: Produkt – Konsum – Ressource – Magazin/Speicher/Archiv/Depot. Recycling statt Finalität: Die Müllkippe mutiert vom Endlager zum Zwischenraum. Das Areal für Altlasten entpuppt sich als Ort der Transformation des Vorgefundenen in neue Kontexte. Als Jetzt-Archäologen verwandeln die Müllkünstler Relikte des Alltags zu Reliquien des Profanen. Dabei ruft die Quantität des Materials bei Künstlern dieses Genres jenes Gefühl hervor, das Sinnenfreude und Kreativität nährt (siehe den Band «Müllkunst»).
Natürlich sind die beiden KUNSTFORUM-Hefte «Theorien des Abfalls» und «Müllkunst» nicht isoliert als jeweils singuläre Produkte zu verstehen. Vielmehr stehen sie in einem konstruktiven Spannungsfeld, das zusätzliche Erkenntnisse freisetzt. Ästhetik und Kunst sind die Orte, wo alles Abfällige seine radikalste Gestalt findet. Die «Theorien des Abfalls» vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, Konflikte, Widersprüche und Unvereinbarkeiten zu ertragen und auf konstruktive Art produktiv zu machen. Die Logik des Abfalls entwickelt sich durch den Prozess selbst. Der Zufall bringt hier nichts durcheinander, sondern ermöglicht es dem Trash-Potenzial, sich zu entfalten. «Die schönste Welt» erschien dem griechischen Philosophen Heraklit (535-475 v. Chr.) «wie ein planlos aufgeschütteter Kehrichthaufen». Der Abfall fristet als das ausgeschlossene Dritte abseits von Gesellschaft und Natur ein gespenstisches Dasein. Beim Anblick eines Müllbergs verspürt manch einer einen Stich der Erleuchtung.