Edgar Schmitz
Taryn Simon
»A Living Man Declared Dead and Other Chapters«
Tate Modern, London, 24.5. – 6.9.2011
Neue Nationalgalerie, Berlin, 22.9.2011 – 1.1.2012
Taryn Simon konstruiert hier vorgeblich Blutlinien: in einer hybriden Form zwischen journalistischer Forschungsarbeit und indexikalischer Inventarisierung erscheinen in ihren Tableau-Arrangements Massen australischer Kaninchen, die Geschichte eines nach Nordkorea Verschleppten und das Schicksal homosexueller Paare nach Francos Spanien. Wie schon in früheren Arbeitsreihen reflektiert Simon auch hier auf die (Un-)Möglichkeit fotografischer Ansprüche auf das Dokumentarische, darauf, wie Protagonisten und Orte in die Sichtbarkeit von Bildern befördert werden können und unter welchen Bedingungen und zu welchem Preis das zu leisten sein könnte.
Sie nennt die Foto-Geschichten dieser Reihe Kapitel, und alle sind identisch strukturiert: je drei Teile – die Porträtphotos (die die Blutlinien nachzeichnen), die Informationen zur Geschichte (was auf Englisch so schön als Storyline bezeichnet wird), und dann die Anmerkungen/ Fußnoten, die möglich Anbindungen andeuten und Assoziationen und mögliche Anfänge anderer machbarer Geschichten anlegen. Das zentrale Textfeld ist eine dieser drei Möglichkeitsformen und gleichzeitig Index auf die beiden anderen und hat so eine mindestens doppelte Funktion und reizt so noch ausdrücklicher als in früheren Serien die Sprach-/Bildspannungen der Arbeiten aus. Daran, wie sich die inhaltlichen An- und Vorgaben der zentralen Tafel in die angrenzenden Bildfelder übersetzen lassen, wie diese sich von ihm aus erschließen oder eben auch nicht, erweisen sich letztlich beide Felder in ihrer Bildlichkeit als unzuverlässig und immer bestenfalls provisorisch.
Die prekäre Behelfsmäßigkeit, mit der Simon hier Ordnungs- und Erklärungsmuster herzustellen oder zumindest auszutesten versucht, indem sie ihr Kuriositätenkabinett heutigen Horrors…