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Titel: Spiegelbilder - Kunst und moderne Psychoanalyse · von Ulrich Giersch · S. 78 - 89
Titel: Spiegelbilder - Kunst und moderne Psychoanalyse , 1981

Stadtspiegelungen

Zur Ornamentik des Urbanen
von Ulrich Giersch

In kaum einer anderen Stadt der Welt wird dem Licht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie in Paris, der ‘ville lumière par excellence’ und nirgendwo sonst findet man ein so subtiles wie komplexes System von Spiegelungen, in denen Lichter gebrochen, verwandelt und als Lichtverhältnisse so erst dem Auge auffallen. Wer in der Stadt zu tun hat, muß zwangsläufig immer wieder ihren großen Flußspiegel überqueren, der die beiden Hälften des Stadtbildes in konkurrierender Distanz hält. 1844 schreibt F. Hebbel in sein Tagebuch:

“Ich stand gestern abend bei Sonnenuntergang auf dem Pont Neuf. Ihr rotglühendes Bild in der Seine, unter dem Pont Royal hervorschimmernd, nahm sich zauberhaft aus; das Wasser schien zu brennen.”

Ganz im Sinne des oben zitierten Wahlspruches reflektiert Benjamin ähnliche Beobachtungen in einer mythisch anmutenden Ritualszene: “Die Seine ist der große, immer wache Spiegel von Paris. Tagtäglich wirft es seine festen Bauten und seine Wolkenträume als Bilder in diesen Fluß. Er nimmt die Opfergaben gnädig an, und er bricht sie zum Zeichen seiner Gunst in tausend Stücke.”(1)

Der an diesen Wasserwellen geübte Blick wird nicht umhin können, auch die architektonischen Materialien und Formen nach dem Grade ihrer Reflexionskraft einzustellen: von den glänzendweißen Kacheln der Metrogänge, den bild- aber nicht lichtblinden Spiegeln des grauen Dachbleches und Aluminiums, den hellen Bausteinen der Häuser des 16. Arrondissements, wo das abendliche Sonnenlicht in einer prächtigen Glanzpalette wiederscheint, den zahlreichen Glasarchitekturen der letzten beiden Jahrhunderte bis zu den unzählbaren Schaufenstern der Geschäfte, die in Paris immer wieder mit großen Spiegelflächen und Spiegelvitrinen…

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