Bracha Ettinger
Spuren der Erinnerung als Struktur von Gewalt
Eine Fotokopie
A und B, Anfangsbuchstaben des Alphabets, Voraussetzungen für das Schrifttum und seine Überlieferung, Zeichen und Symbole der Kultur- und Zivilisationsgeschichte, sind im Dokument einer fotokopierten Buchillustration zu Zwangs- und Ordnungssystemen einer die Rasseideologie festschreibenden Klassifizierung erstarrt: zwei “Gesäßformen” A und B unterscheiden niedere und höhere
Rasse, schlaffe Beine, Hängebauch und straffe Bein- und Bauchmuskeln. Die deutsche Druckschrift (Fraktur) der eher harmlos und lächerlich anmutenden Skizze – auch eine Pervertierung gerade in der Kunst und Bildsprache ausgeprägter, klassisch-akademischer Schönheitsideale wie der Proportionslehre – gibt Aufschluß über den Ursprung, dessen Konsequenz das Holocaust des deutschen Faschismus wurde.
Die Spur.
Der künstlerische Ein- und Zugriff auf das historische Dokument: die Verdoppelung und Reihung, die jedoch nicht Wiederholung und nicht Serialität bedeuten. Der verschiedene An- und Ausschnitt beider Blätter und die verschiedene Kopierqualität (Schwärzung) demonstrieren die Wahrnehmungsdifferenz und Variation. Dazu zeichnet eine von Hand geführte schwarze Tusch-Spur die Blätter neu, A und B voneinander trennend. Die Spur antwortet mit Ab-Bildlosigkeit, nicht die im Bild aufbewahrte Geschichte und Semantik zu negieren, sondern sie im Gestus neu zu evozieren und zu provozieren: die zeichnende Hand wird “Transportmittel” zwischen Vorgefundenem und Erfindendem, Unbewußtem und Bewußtem, Geschichte und Gegenwart, wie parallel auch das Fotokopierverfahren als “Transportmittel” zwischen Original und Kopie, Ursprüngliches und Verfremdetes getreten ist.
Transportmittel.
Transportmittel – gestisch, motivisch, metaphorisch und maschinell – sind Leitmotiv im Werk Bracha Ettingers. Thematisiert werden der Raum und die Zeit, die zwischen “Abfahrt” und “Ankunft” liegen, die Rückfragen auf das Vergangene und Fragen auf das Zukünftige stellen…