Jürgen Raap
Siglinde Kallnbach
Tempelopfer und Feuerrituale
Von der Decke hängen zwei frische Makrelen herab; ein Video zeigt Bilder aus Japan: Wolken, schwimmende Fische, Straßenschluchten in Tokyo, Windrädchen als Spenden an die Götter und Maskenfeste. – In den Tempeln kann man Horoskope kaufen, und wenn jemandem die Weissagung nicht gefällt, faltet er das Papier zusammen und knotet es an Schnüre. Darauf bezieht sich in mehrdeutigem semantischem Beziehungsgeflecht das Schnurmotiv in Siglinde Kallnbachs Performance “Ohne Titel” (Festival Oldenburg, 1994): Nach und nach umhüllt sie ihren Körper mit Papierstreifen bis zu völligem Eingebundensein, behängt damit auch die Schnur mit der einen Makrele, bis diese hinter einem voluminösen Streifenbündel kaum noch sichtbar ist. ART PERFORMANCE bzw. PERFORMANCE ART bedeutet in der theoretischen Abgrenzung, wie sie z.B. Elisabeth Jappe zur THEATER-PERFORMANCE und anderen Formen des AKTIONISMUS vorgenommen hat, Arbeit mit dem eigenen Körper in Korrespondenz mit verschiedenen Materialien. Wo bei Kallnbach auch lebende Tiere als Mit-Akteure aufgetreten sind, etwa ein Affe oder ein Kanarienvogel, sind Vergleiche mit dem polnischen Performance-Pionier Zbiegniew Warpechowski legitim.
Transkulturelle Recherche
Die politischen Botschaften, die Siglinde Kallnbach in früheren Performances und Installationen artikulierte, waren bisweilen recht kraß inszeniert worden, bis hin zu ungewollten physischen Verletzungen. In den weitaus ruhigeren jüngsten Arbeiten überwiegt jedoch eine eher unspektakuläre Darbietung von metaphorischen bzw. symbolischen Gesten, deren Verweischarakter gleichzeitig vielschichtiger ist: Sie greift den spielerischen Umgang der Japaner mit religiösen Inhalten auf, jene eigenartige Mischung aus Profanität und Sakralem, die dem Europäer fremd ist. Sie fängt Bilder von der Natur und von Naturvorgängen ein, Wolkenfelder und fließendes Wasser,…