Schau der Kollektive
Entspannt euch! Die documenta fifteen ist ein Brennglas für kollektive Erinnerungen
von Judith Elisabeth Weiss
Die documenta als Kollektives Kunstwerk
Am Eingang zum programmatischen Herzstück der Kunstschau, dem Fridericianum, passiert man eine unscheinbare Plakattafel mit der Aufschrift „…this question (where is the art) is really happening…“ [01] Das von der documenta fifteen abgesteckte Feld hätte kaum treffender auf den Punkt gebracht werden können. Die Frage, wo die Kunst ist, stellt sich existentiell im gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich benachteiligten globalen Süden, wo Bildung oft Mangelware und das tägliche Brot wichtiger ist als Ästhetik. Sie stellt sich aber auch in Kassel, Berlin und New York, im privilegierten globalen Norden, wo man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, weil das rasante Karussell der Spektakel, Kunstmessen, Großevents und Ausstellungen einen visuellen Overkill und mit ihm eine paradoxe inhaltsschwere Leere bewirkt.
Die documenta fifteen ist die vielleicht radikalste documenta seit 1955.
„Make friends not art!“1 Der Spruch klingt kokett, besonders wenn er aus dem Mund jener kommt, die eigentlich Kunst hervorbringen. Auf der documenta 15 ist er so etwas wie ein informeller Leitspruch. Mitmachen, sich auf Gesten der Freundlichkeit, Großzügigkeit und Achtsamkeit einlassen, sich Zeit nehmen und Zeit teilen, das Moment eines geglückten Gesprächs mit einem Fremden zulassen. Ist das, was zwischen Menschen dann entsteht, Kunst? Und der sorgsam gepflegte Garten im W22, den das Nhà Sàn Collective aus Vietnam initiiert hat? [02] An diesem friedlichen Ort finden sich Gewächse zum Würzen, zum Heilen und zum Meditieren. Angelegt wurde der hortus conclusus von vietnamesischen Migrant*innen…