Sigrid Feeser
Russische Avantgarde und Volkskunst
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 24.7. – 12.9.1993
Daß das Licht aus dem Osten komme, weiß Natalja Gontscharowa ganz genau: “Bis zu diesem Zeitpunkt”, schreibt sie 1913, “habe ich alles studiert, was der Westen mir geben konnte, aber im Grunde hat mein Land alles hervorgebracht, was nun aus dem Westen wieder dorthin zurückfließt. Nun schüttle ich den Staub von meinen Füßen und lasse den Westen hinter mir … mein Weg führt zur Quelle aller Kunst, dem Osten. Die Kunst meines Landes ist unvergleichlich tiefer als alles, was ich im Westen kenne.”
Goldene Worte, kaum beachtete Worte. Verdankte die russische Avantgarde dem westlichen Beispiel nicht alles, war sie nicht durch und durch international? Nein – oder eben nicht ganz, behauptet die Sommerausstellung in der Kunsthalle Baden-Baden, die sich mit den bis heute noch nicht genauer untersuchten Beziehungen zwischen russischer Volkskunst und künstlerischer Avantgarde auseinandersetzt. Sie wurde gemeinsam mit dem Staatlichen Russischen Museum St. Petersburg organisiert, schöpft aus den immensen Beständen des Hauses und wird anschließend auch in St. Petersburg gezeigt.
Anregungen durch die Folklore Afrikas, des Fernen Ostens oder Südamerikas spielen, anders als im Westen, in Rußland keine Rolle. Mit dem Versuch, die heimische Kunst der ersten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts auf ihre Quellen der Inspiration hin zu befragen, betreten die Veranstalter weithin unsicheres Gelände. Das Problem sei nur gestellt, warnt die St. Petersburger Projektleiterin Jewgenija Petrowa da zu Recht: “Von Lösungen sind wir noch weit entfernt.”
Das mag nun so sein, indessen ist die Ausstellung selbst so suggestiv und beziehungsdicht aufgebaut,…