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Titel: Zwischen Erinnern und Vergessen · von Jean-Christophe Ammann · S. 178 - 179
Titel: Zwischen Erinnern und Vergessen , 1994

Jean-Christophe Ammann
Robert Gober

Führt der männliche Unterleib – Ohne Titel, 1991 – in die Wand hinein oder ragt er aus der Wand heraus? Wo befindet sich der Oberkörper? Deutet dieser bäuchlings auf dem Boden liegende Körperteil den Außen- oder den Innenraum an? Oder ist vielleicht dieses Körperfragment so zu verstehen, wie etwa ein I9I3/I4 entstandener Bronzetorso von Wilhelm Lehmbruck mit abgeschlagenem Kopf, Armen und Beinen? Natürlich sind die Glieder der Lehmbruckschen Skulptur nicht abgeschlagen: Gestalt, Volumen und Haltung wurden ohne die fehlenden Teile konzipiert. Oder anders ausgedrückt: Die fehlenden Glieder bezeichnen und bedeuten weder inhaltlich noch skulptural ein Moment der Abwesenheit. (Ohne die bahnbrechende Vermittlung von Johann Joachim Winckelmann ( 1717-1768) sind solche vollendeten, auf griechisch-römischen Figurenfragmenten beruhende Skulpturen kaum denkbar.)

Robert Gobers Unterleib ( 1991 ) ist zwar Fragment, aber er gehorcht anderen Gesetzen als jenen der klassischen Moderne. Er ist, isoliert und ausgesetzt, in Wachs modelliert, behaart, mit Unterhose, Socken und Schuhen bekleidet. Abgüsse von vorgefertigten Abflußlöchern sind in Beine und Gesäß “hineingeschraubt”, als handle es sich um handtellergroße Schwären. Abflußlöcher sind der Ort, wo das schmutzige Wasser, der Abschaum, in die Kloake fließt. Abflußlöcher sind aber auch der Ort, wo der kleine Junge, in der Badewanne sitzend, fasziniert der oszillierenden, nagelförmigen Wasserspirale zuschaut. – Erinnerung, Aussatz, Ausgesetztsein verbinden sich in diesem Werk zu einer biographischen Einheit. Es gibt ein Gegenstück zu dieser Arbeit: Der Unterleib ist unbekleidet; die Gesäßhälften sind von einer fein säuberlich aufgetragenen musikalischen Partitur bedeckt. Der sich selbst überlassene, seiner ekstatischen Einsamkeit ausgesetzte Körper wird…


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von Jean-Christophe Ammann

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