Ritual einer entgrenzten Welt
Die documenta mag in der Krise sein, als Plattform der neuen Kunstwelten ist sie so unentbehrlich wie die UN für die Weltpolitik
von Ingo Arend
Soll die documenta in Würde sterben? Harald Kimpel wählte starke Worte, als er vergangenes Jahr einen Schlussstrich unter die ewige documenta-Debatte ziehen wollte. Er wünsche sich, so der Kurator und assoziierte Forschende des Kasseler documenta-Archivs in mehreren öffentlichen Wortmeldungen, ein „groß angelegtes, fulminantes Ende“ der 1955 erstmals veranstalteten Weltkunstausstellung. Das Wort eines der wichtigsten documenta-Historiographen, Autor des 1997 erschienenen, bis heute unbestrittenen Standardwerks documenta. Mythos und Wirklichkeit, hat Gewicht. Mit seinem Schwanengesang stand Kimpel freilich nicht allein. Auch für die publizistischen Kritiker*innen, die die documenta fifteen wegen des Bildes People’s Justice des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, dem Projekt Tokyo Reels des palästinensischen Kollektivs Subversive Film oder dem Bilderzyklus Guernica Gaza von Mohammed Al-Hawajri unter den Generalverdacht des Antisemitismus glaubten stellen zu müssen, darf es kein „Weiter so“ geben. Aus dieser ideologischen Zangenbewegung zwischen der Enttäuschung ihrer Anhänger und der Wut ihrer Gegner hat sich die documenta bislang nicht befreien können. Die derzeitige Stille am Kasseler Friedrichsplatz ist nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Spätestens mit der Wahl der neuen Kurator*innen für die documenta 16 werden diese ideologischen Wunden neu aufgerissen werden. Schon allein, weil ihr Lebenslauf und ihre politische Verortung akribisch gescannt werden dürften. Auch die Erforschung und Auswertung der Rolle NS-belasteter Gestalten in der documenta-Geschichte ist mit der „Enttarnung“ Werner Haftmanns längst nicht beendet. Dass nicht die documenta als Institution, sondern…