Hartmut Böhme
Riten des Autors.
Annäherungen an Hubert Fichte
1. Tod und Wiedergeburt. Zum rituellen Sinn von Theater und Literatur bei Fichte
An den Hamburger Kammerspielen (Intendantin: Ida Ehre) spielte der zwölfjährige Hubert Fichte 1947 die Hauptrolle des Johnny in William Saroyans “My Heart’s in the Highland”1. Fichte erzählt davon in seinem Roman “Detlevs Imitationen ‘Grünspan'”. Während der Premiere tritt ein, was besonders junge Schauspieler fürchten: Der Text rutscht weg; für Augenblicke der Panik droht der Absturz des “Kinderstars”, der sich mit Johnny identifikatorisch verschmolzen hat.
“Ich vergesse.
Ich.
Wer Ich?
Detlev?
Johnny?
Ich sehe Detlev, der Johnny spielt, auf der Bühne stehen, und die Zuschauer sehen Johnny vor seinem Vater, und wenn Detlev das richtige Wort nicht einfällt, dann hat Johnny aufgehört zu existieren, ohne gestorben zu sein.”
(Grünspan, 170)
Ein Augenblick der Anomie. Zeiten und Ichs verwirren und verknäueln sich: das Erzähl-Ich, die Rollenidentität “Johnny”, die erzählten Identitäten “Detlev” und “Jäcki”. Der Text zählt die Sekunden, während derer sich der Schrecken durch alle ineinander geschichteten Ich-Formationen ausbreitet. An der Stelle, wo der Dramentext ins Stocken gerät, bildet das Schweigen einen Raum der Leere, in welchen die angsterfüllten Assoziationen und Erinnerungen Detlevs, Jäckis und des Erzähl-Ichs einschlagen wie Steine in eine unbewegte Wasserfläche: “Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei…”: – Was wäre bei Null? “Explosion”? “Bombenangriff”? “Nichts”? “Skandal”? “Tod”? “Hinrichtung”? “Ende”? “KZ”? “Verhungern”? “Irrsinn”?
Alle Vokabeln des Schreckens, der das Werk Fichtes erfüllt, wären hier einzusetzen. Während die Sekunden des Vergessens tackern, schießt die Angst in den Text ein. Sie verwirbelt die getrennten Ich-Dimensionen des…