Rémy Zaugg
geb. 1943, lebt in Basel
…Im Gegensatz zur wiedererkennenden Wahrnehmung, die automatisch, repetitiv, mechanisch, schnell und selbstsicher ist und beinahe gegen ihren Willen weiß, ist die künstlerische Wahrnehmung ihrerseits schöpferisch, befragend, langsam und unsicher, reflektierend, intuitionsträchtig und klarsehend.
Widmer: Sie sind bei ihrer Erklärung eigentlich von einer sprach-analytischen Position ausgegangen und haben das Wort “wahrnehmen” in die Teile wahr – Wahrheit – wahrhaft und nehmen – genommen zerlegt, also abstrakten Begriff und konkrete Handlung voneinander geschieden. Dann sind Sie auf die Zwänge und Folgen von angelernten Wahrnehmungsbegriffen, konventionellen Kriterien zu sprechen gekommen. Könnten Sie Ihre Ausführungen an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?
Zaugg: Was mich interessiert, ist das Werden des unmittelbar Sichtbaren dank der Arbeit des Sinns, der Bedeutungen, also das, was der Zusammenhang aus der Sache macht oder was diese Sache in einem besonderen Zusammenhang – und dank der Auseinandersetzung des Subjekts mit ihr – wird. Und wenn ich von der Wahrnehmbarkeit spreche, also vom Wesen dessen, was wahrgenommen werden kann, so nur, weil der erste und unmittelbare Schein noch nicht die wirkliche Wahrnehmung des Werks ist, denn dieses muß sich erst noch dank der Auseinandersetzung herausbilden. Kurzum, was ich offenbar machen möchte, ist der Sinn, den eine banale Sache gewinnen kann, die wir per definitionem zu kennen vermeinen, von der wir aber feststellen, daß wir sie nicht kennen oder nicht mehr kennen, wenn wir uns fragen, was sie ist; denn sobald wir eine Sache befragen, befragen wir auch ihren Zusammenhang, da die Dinge nicht vereinzelt sind, sondern an und in einem…