Rainer Metzger: Relektüren
Folge 35
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt: Suhrkamp 1970
Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens. In einem Buch gibt’s nichts zu verstehen, aber viel, womit man etwas anfangen kann. Nehmt, was ihr wollt!“ Deleuze und Guattari, die vornamenlosen Dioskuren des Diskurses, wie er in den Siebzigern aufgekommen war, haben ihrer Leserschaft diese Gebrauchsanweisung mitgegeben und den Begriff gleich auch noch. Wie ein Pilz sich unter dem Boden ausbreitet, überhaupt nicht tief, aber verzweigt und gleichsam absichtslos, um ab und an nach oben zu stoßen, so soll die Lektüre wuchern, oberflächlich im Wortsinn und mit dem Hang, sich irgendwo zu verstocken. Rhizomatisch soll sie sein, wie das Bändchen von Deleuze/Guattari, das diesen Plan vorgab, „Rhizom“ betitelt war, 1977 bei Merve herausgebracht, eine Art Digestif zur schweren Verdaulichkeit des 1972er „Anti-Ödipus“.
Zwei Jahre davor war Suhrkamp mit einem gewichtigen Werk herausgerückt, das wie keines davor zu einer rhizomatischen Lektüre einlud. Aus dem Nachlass des am 6. August 1969 überraschend Verstorbenen gaben Gretel Adorno und Rolf Tiedemann eine „Ästhetische Theorie“ heraus, die „vom Autor nicht vollendet“ war, wie es lapidar über der Titelei heißt. Es hätte eine Summe werden sollen, schließlich war Theodor Wiesengrund-Adorno, der nach seiner amerikanischen Naturalisierung den jüdischen Anteil an seinem Namen auf das Middle Intitial eindickte, ein sehr praktizierenden Künstler. Er war Musiker, Komponist, Arnold-Schönberg- und Alban-Berg-Adept und Einflüsterer für…