Rainer Metzger
Relektüren
Folge 10
An einem Frühlingstag des Jahres 1983 begann der Verfasser dieser Relektüre in Peter Sloterdijks soeben erschienener Kritik der zynischen Vernunft zu lesen. Es war in der S-Bahn Richtung München, und gerade als der Zug und die Lektüre richtig in Fahrt gerieten, betrat Jürgen Habermas das Abteil und setzte sich vis-à-vis. Er hatte ein dickes Manuskript auf seinen Knien, doch so recht wollte ihm die Konzentration darauf nicht gelingen. Immer wieder ging sein Blick auf den Studenten, der ihm gegenüber in das lila eingeschlagene Taschenbuch der Firma Suhrkamp vertieft war. Sein Zorn war ihm anzusehen. Was der junge Mensch da las, schien dem in Ehren zum Vordenker der Nation Avancierten völlig das Falsche.
Wenn Habermas der Philosoph der Ära Helmut Schmidt war, so ist es Sloterdijk heute für das System Schröder. Die neue Unübersichtlichkeit, vor der Habermas seinerzeit warnte und die er ohne Zweifel auch in Sloterdjiks überdimensioniertem Essay von 950 Seiten am Werk sah, ist zum Dauerzustand geworden. Und wenn das Buch seine Unübersichtlichkeit schon darin besitzt, dass ihm nicht zu entnehmen ist, ob Zynismus nun eine Grundbedingung der Moderne oder einen ihrer Auswüchse darstellt, so steigert sich die Desorientierung zwanzig Jahre später noch. Kein anderer Text verliert sich in der Relektüre derart zwischen kluger Prognose und völliger Fehlspekulation, zwischen detailgenauer und ebenso fundamentaler Kritik an politischen oder philosophischen Positionen und der Wortjongliererei eines Meta-Erzählers, der im Klappentext als “freier Schriftsteller” firmiert.
“Jede bewußte Sekunde tilgt das hoffnungslose Gewesene und wird zur ersten einer Anderen Geschichte” (S. 953). So…