Rainer Metzger
Relektüren
Folge 20
Irgendwann um das Jahr 1992 war in irgendeiner kleinen Galerie eine Fotoarbeit zu sehen. Wer es war, der sich hier bildnerisch artikulierte, hat sich leider nicht im Gedächtnis bewahrt, doch es war auf alle Fälle eine Künstlerin, denn das zweiteilige Stück war eine spezielle Art von Selbstporträt. Es zeigte die Artistin einmal in ganz alltäglicher Kluft, und es zeigte sie das andere Mal in der selben Kluft, jedoch die Kleidungsstücke in umgekehrter Reihenfolge um den Leib geschlagen. Die Jeans und die Jacke lagen also ganz an der Haut, dann kamen Strumpfhose und T-Shirt, bis zum Schluss ganz außen Slip und BH zu sehen waren. Deutlich einsichtig das Ganze, und womöglich auch nicht weiter von Belang. Was sich aber ins Hirn brannte, war die Etikettierung. Und so erfuhr der Kritiker: “Das ist Gender-Kunst”.
Erstaunlich kurz war der Weg von den Höhen des feministischen Diskurses in die Niederungen der Galeriearbeit, und der Slogan, der so schnell die Runde machte, war ja auch sehr griffig. Statt “Sex” sollte “Gender” gelten, hatte Judith Butler vorgeschlagen, statt des biologischen Geschlechtes die “Geschlechtsidentität”, wie es ihre Übersetzerin Kathrina Menke auf die deutsche Begrifflichkeit bringt. Die erwähnte Fotoarbeit hatte diesbezüglich nichts unillustriert gelassen: Dem Einheitslook von Jeans und Jacke wurden die geschlechtsspezifischen Accessoires vorgeblendet, und heraus kam, was man Konstruktivismus nennt, der deutliche, aber eben artifiziell hervorgebrachte Verweis darauf, dass es sich um Weibliches handelte. Dass es auch eine Frau war, die hier mit offenbar doch Ureigenem hantierte, darf man als Unausgegorenheit der Frühzeit verbuchen.
“Man…