Rainer Metzger
Relektüren
Folge 21
Der Vortrag, den der Pariser Ethno- und Anthropologe Marc Augé Ende März 2007 in Berlin anlässlich der “Raum”-Veranstaltungsreihe der dortigen Akademie der Künste gehalten hat, trug den Titel “Orte und Nicht-Orte”. Das kann einem angesichts des Buches, das ihn bekannt gemacht hat, allzu einschlägig vorkommen, und in der Tat wird Augé von allen Beitragenden zu diesen Relektüren am deutlichsten und am eindeutigsten mit einer einzigen Publikation identifiziert. “Nicht-Orte”: Ein eingängiger, nicht an den Haaren herbeigezogener, sondern schlicht durch Verneinung hergestellter Zentralbegriff, eine These von unmittelbarer Evidenz, dargestellt am alltäglichen Beispiel eines Durchschnittsmenschen, den Augé, wie er ihn im Eingangskapitel bei seinem Unterwegssein verfolgt, unter dem Namen Pierre Dupont als französischen Mustermann ausweist, und ein Themenfeld, das mehr und mehr alle angeht. In einem Wissenschaftsbetrieb, der sich längst nicht mehr zu dumm ist, dem Starprinzp zu huldigen, gibt Marc Augés Buch so etwas ab wie das One-Hit-Wonder.
Anders als der sehr deutsche Titel, der es in bewährt idealistischer Manier auf eine Dialektik anlegt und in der Unterzeile vollends in Romantik schwelgt – eine vergleichende Liste von Original- und übersetzten Titeln würde insgesamt deutlich machen, dass es noch längst nicht vorbei ist mit den Nationalkulturen -, wartet die Originalfassung mit einer dezidierten Negation auf. Jedem, der sich im Jahr der Erstausgabe 1992 auf “Non-Lieux” einließ, war klar, wer für die positive oder besser affirmative Version des Ortsbegriffs verantwortlich zeichnete. Es war Pierre Nora mit seinen “Lieux de mémoire”. Noras vielbändige Auseinandersetzung mit den Erinnerungsorten, die die Frage des nationalen Gedächtnisses…