Relektüren
Folge 44
von Rainer Metzger
„Wir haben Frühling hier, aber wie Rachel Carson sagte, er ist stumm“: Diese Zeile entstammt einem Liebesbrief, geschrieben im April 1969, und er ging an die damals 77 jährige Djuna Barnes, die ihrerseits in allem Stillschweigen in New York vor sich hin alterte. Thelma Wood, Bildhauerin, geboren 1901, langjährige Geliebte der berühmten Modernistin, hat die Zeile verfasst, als Signatur anhaltender Verehrung, ungestillten Verlangens, immer noch verspürter Qual. Und um all die Nicht-Versöhntheit auf den Punkt zu bringen, wird eine Formulierung bemüht, die offenbar längst in den Metaphernschatz ihrer Sprache aufgenommen war: die Rede vom Frühling, der stumm ist, gehalten von Rachel Carson im Jahr 1962.
In aller Wahrscheinlichkeit ist keines der Bücher, die hier einer Relektüre unterzogen werden, so aktuell geblieben wie Rachel Carsons Gründungsschrift der Ökologie-Bewegung. Das gilt beileibe nicht nur für erotische Referenzen auf unerfüllte Frühlingsgefühle. Das gilt ganz buchstäblich. Soeben hat die „Nationale Akademie der Wissenschaften“ in Halle, die Leopoldina, ein Diskussionspapier herausgebracht, in der sie „strengere Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel“ fordert. Titel des Papers, so zeitlos wie vorhersehbar: „Der stumme Frühling“.
„Es war einmal“ beginnt Carsons Schlüsselwerk im Duktus der einschlägigen Märchenerzählungen, „eine Stadt im Herzen Amerikas“. Und wie immer in solchen Textformen steht das Unheimliche schon an der nächsten Ecke. Es lauert akustisch: „Es herrschte eine ungewöhnliche Stille. Wohin waren die Vögel verschwunden. Viele Menschen fragten es sich, sie sprachen darüber und waren beunruhigt. Die Futterstellen im Garten hinter dem Haus blieben leer. Die wenigen Vögel, die sich noch irgendwo blicken ließen, waren dem…