Jochen Becker
Real Stories
»Eine Revision der dokumentarischen und erzählenden Fotografie«
Museum Folkwang, Essen, 3.2. – 20.3.1994
Im Katalog der Grazer Ausstellung “KRIEG.” beschreibt Fred Ritchin die Abstumpfung gegenüber Kriegsbildern aus Ex-Jugoslawien. Während die Werbung ihre Bildsprache beständig umwälze und dabei die Bildreportage inkorporiert, beharre die Dokumentarfotografie auf “trauernden Witwen, verwundeten Kindern, zermürbten Soldaten”. Angesichts der zuneh- menden Einbindung von Bildjournalisten in die Propagandaarbeit der Kriegsparteien suchten einige nach neuen, selbstbestimmten Arbeitsmöglichkeiten. Von der Kooperation mit Hilfseinrichtungen bis zur Abkehr vom üblichen Distributionsweg TV/Zeitung/Magazin reicht die Palette der Neuorientierung. So produzieren einige Bildreporter in Eigenregie Bücher, “die Fotografie, Text und Layout so miteinander verbinden, daß Dinge verdeutlicht und nicht verwischt werden”. Andere experimentieren mit Video oder “kombinieren die Techniken der Reportage mit denen des Künstlers, in dem Versuch, den Ereignisbezug von parteiischen Betrachtern zu rekonfigurieren”. Die Wanderausstellung “Real Stories” setzt in gewisser Weise dort an und demonstriert “eine Revision der dokumentarischen und erzählenden Fotografie”.
Jan-Erik Lundström, der die “wahren Geschichten” im dänischen Museet for Fotokunst in Odense zusammenstellte, verabschiedet den Realismus des dokumentarischen Verfahrens, möchte jedoch dessen “Realitätseffekt” gewahrt wissen. Ihre “doppelte Konnotation” von Erziehung und Information trägt die Dokumentarfotografie seit ihrem Erscheinen im Rahmen anthropologischer und ethnografischer Forschung mit sich. Ein erster Einschnitt zeichnete sich mit dem Niedergang der Illustrierten und Bildessays ab. Laut Lundström wechselte die ambitionierte Dokumentarfotografie die Seiten der Magazine und Bücher mit den Wänden der Museen. Die aus der Summe einzelner Aufnahmen montierte Bildstrecke blieb so zwar gewahrt, doch durch den neuen Kontext traten formale Aspekte in den…