Radio Alice
Eine kleine Gruppe zwischen Himmel und Erde
Eines Morgens im Frühjahr 1976 konnte man in Bologna auf 100,6 MHz eine sanfte Frauenstimme im Radio hören, mit indischer Musik im Hintergrund: »Eine Einladung an euch, heut morgen nicht aufzustehen, mit jemandem im Bett zu bleiben, euch Musikinstrumente zu bauen und Kriegsmaschinen.«
Das ist eine der vielen Möglichkeiten, den Bericht über die kurze, aber glückliche Geschichte eines Kollektivs zu beginnen, das die Beziehung von künstlerischer Avantgarde und Massenmedien – zweier sich gegenseitig auffressender Schlangen, wie Omar Calabrese es nannte – ins Zentrum seiner Überlegungen stellte. Und seiner Aktivitäten. Eine andere Möglichkeit wäre, das Terrain zu definieren, auf dem sich diese Geschichte entfaltet.
Mitte der 70er Jahre entsteht in Bologna, dem Disneyland kommunistischer Regionalverwaltung, ein Laboratorium besonderer Art. Eine kleine Gruppe junger Intellektueller, Künstler und Studenten sucht Modelle kultureller Veränderung zu entwickeln, in denen sich die kulturrevolutionären Vorstellungen der »Neuen Linken« mit der spätkalifornischen Vision einer sanften technologischen Revolution überkreuzen. Die Bedeutung der Medien für jede kulturelle Transformation und die Aktualität der historischen Avantgarde unter den Zeichen der Informationsgesellschaft stecken das Terrain dieser Erkundungen ab.
Nach dem Gesetz, das »seines Wissens« zuerst Viktor Schklowskij entdeckt hat, »wird in der Geschichte der Kunst das Vermächtnis nicht vom Vater auf den Sohn, sondern vom Onkel auf den Neffen übertragen«. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß die Bologneser Gruppe bei ihrem Unternehmen weniger vom italienischen Futurismus und den neo-avantgardistischen Strömungen Italiens in den 60er Jahren beeinflußt ist, als von den Erfahrungen der historischen Avantgarde. Gerade weil die…